Erkenntnisse

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Ich war Cornelia Leitz aus dem Büro gefolgt. Zielstrebig lief sie auf ein paar lehnenlose Bänke zwischen Buchsbäumen zu, welche etwas abseits in einer kleinen Nische standen. Wir setzten uns beide und ich achtete darauf, möglichst viel Abstand zwischen uns zu lassen.

„Ich freue mich, dass Sie von sich aus auf mich zugekommen sind.", begann die Psychologin sogleich das Gespräch. „Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das nicht leichtfällt."

„Wie kommen Sie darauf?", wunderte ich mich. Offensichtlich hatte sie ihrerseits ebenfalls mit mir sprechen wollen, zumindest verstand ich ihre Worte so.

„Naja..",grinste sie. „Ich halte Sie für jemanden, der sich nicht gerne überraschen lässt. Für jemanden, der gerne weiß wie die Dinge laufen werden. Sie mögen das Ungewisse nicht. Wollen die Zügel in der Hand haben."

Das saß. Sie hatte ins Schwarze getroffen. In einer anderen Situation hätte ich anerkennend durch die Zähne gepfiffen. Doch sowas gehörte hier nicht her. Sie machte ihren Job, das war es.

„Ich schätze, sie verstehen etwas von Ihrer Tätigkeit.", gab ich zu. „Wissen Sie, ich würde mich selbst nicht als Kontrollfreak bezeichnen. Ich weiß einfach nur gerne, woran ich bin. Und ja, vielleicht gebe ich nicht gerne die Zügel aus der Hand."

Dr. Leitz nickte. Es entstand eine Pause, welche ich jedoch nicht als unangenehm empfand. Ich überlegte, ob Catri mich je so mit mir selbst konfrontiert hatte. Hatten wir jemals ein Gespräch geführt, welches so in die Tiefe ging? Mussten wir doch, wieso konnte ich mich nicht daran erinnern?

Unvermittelt sprudelte es nur so aus mir heraus. Ich musste meine Gedanken aussprechen, solange der wachsende Kloß in meinem Hals es zuließ, Laute zu bilden.

„Wissen Sie, ich frage mich gerade, wieso es mit Catri und mir funktioniert? Alles was ich schätze und brauche, kann sie mir im Grunde nicht geben. Sie ist gänzlich gegensätzlich. Sie lebt nicht wortwörtlich in den Tag hinein, aber sie liebt das Unbekannte. Sie hat die Suche danach zu ihrem Beruf gemacht und glauben Sie mir, es ist ihre Berufung.", ich lachte bitter, sprach aber sofort weiter. „Mich lässt sie dabei im Dunkeln. Wir leben zusammen, aber sie kommt und geht, wie es ihr gefällt. Manchmal über Tage. Ich weiß nie, wo genau sie sich aufhält. Ob sie sich in Gefahr begibt. Aber hey, ich schätze, die Frage kann ich als geklärt betrachten."

Aus meinem bitteren Lachen waren feuchte Tränen geworden. Wie lange hatten diese Auffassungen und Ansichten im Verborgenen geschlummert? Hatte ich die ganze Zeit über so gedacht, die Gedanken nur nie zugelassen? War ich überhaupt glücklich in meiner Beziehung? Die Erkenntnis darüber, dass ich diese essentiellen Fragen nicht länger ignorieren konnte, traf mich.

Dr. Leitz hatte auf meinen Monolog nichts erwidert. Sie schien zu spüren, dass das Gesagte in mir weiter arbeitete.

Schlagartig wurde mir der Flur, das Gebäude zu eng. Ich musste raus. Weg von hier.

Ich murmelte ein „Entschuldigen Sie mich" und schnappte mir meine Handtasche. Ohne zu wissen, ob ich tatsächlich Richtung Ausgang lief, stürmte ich davon. Meine Schluchzer schüttelten mich heftig, doch ich eilte immer weiter. Schon möglich, dass mich Menschen, denen ich auf meinem Weg begegnete, anstarrten, doch es war mir egal. Ich wollte hier raus, raus in die Freiheit. Ich hatte das Gefühl, zwischen dem Beton zu ersticken.

Endlich erreichte ich den Ausgang und trat hinaus auf den Vorplatz. Atemlos stütze ich meine Hände auf die Oberschenkel und keuchte einige Sekunden. Ich wusste nicht, ob ich so schnell gelaufen war oder ob mir meine Erkenntnis den Atem raubte.

Ein Mann sprach mich an und fragte, ob ich Hilfe brauchte. Ich verneinte und trat den Heimweg an, bevor er etwas erwidern konnte. Mein Bedarf an Interaktionen mit Menschen war gedeckt und so entschied ich mich, zu Fuß nachhause zu gehen. Der Herbstwind blies mir kühl entgegen, aber es störte mich nicht. Im Gegenteil, ich hatte Lust auf einen Sturm. Würde er doch mein Inneres nach außen tragen.

Ich hatte nicht erwartet, dass das Gespräch mit Dr. Leitz in eine solche Richtung verlaufen würde. Wollte ich ursprünglich nur über meinen Zwiespalt bezüglich der Verfügung sprechen. Eine Einschätzung von ihr hatte gereicht, eine Wunde aufzureißen, von der ich nicht mal gewusst hatte, dass es sie gab. Sie hatte perfekt ihren Finger darauf gelegt. Punktlandung

Ich kam nicht drum herum mir die Frage zu stellen, ob sie mit Absicht gehandelt hatte. Ob sie etwas gesehen hatte, was ich nicht sehen konnte. Oder wollte.

Schnell wischte ich den Gedanken wieder beiseite. Was wusste diese Frau schon über mich oder meine Beziehung? Was wusste sie schon über Catri? Dass sie mich korrekt eingeschätzt hatte, war nichts Verwerfliches. Erst im Kontext meiner Beziehung beziehungsweise meiner Partnerwahl wurde es schwierig. Aber hieß es nicht, dass sich Gegensätze anzogen? Und Catri hatte mich angezogen, keine Frage. Ich war glücklich. Eine Beziehung hieß, dass man Kompromisse eingehen musste. Es war nicht so, dass Catri mir fremdging. Es war ihr Job, der sie ab und an von mir wegzog. Ein paar Wochen im Jahr, die für mich geschwärzt blieben. Am Ende konnte ich zwar nachlesen, mit wem Catri sich auseinandergesetzt hatte, aber was genau sie erlebt hatte, das erfuhr ich nie. Ich wusste nicht, ob sie Angst gehabt hatte, ob sie glücklich war, ob sie mich vermisste und ob sie alleine war. Dass es mitunter gefährlich war hatte ich auf die unschönste Art und Weise erfahren.

Ich stieß ein genervtes „Argh!" gen Himmel. Dieses Gegrübel brachte mich nicht weiter. Gut möglich, dass ich mich erneut selbst sabotierte und versuchte, die aufsteigenden Erkenntnisse herunter zu schlucken. Ich beschloss, dass ich am nächsten Tag mit Vera reden wollte. Ich wünschte mir ihr vom heutigen Gespräch oder viel mehr Monolog erzählen. Ich wollte wissen, was sie darüber dachte.

Ich nahm mir vor, die letzten hundert Meter bis zu meiner Haustür die Gedanken beiseitezulegen und die bunten Farben des Herbstes zu genießen.

Mit den Spitzen meiner Pumps beförderte ich ein paar rote Blätter vom Gehweg in die Luft. Ich dachte daran, wie ich als Kind mit meinen Eltern Kastanien gesammelt hatte und wir gemeinsam ganze Familien aus Zahnstochern und den braunen Nussfrüchten gebaut hatten. Mir wurde wieder einmal schmerzlich bewusst, wie sehr ich die beiden vermisste. Viel zu selten besuchte ich das Grab. Ich könnte den Rat der beiden so gut gebrauchen. Ihre Liebe, einen Kakao und eine glückliche Familie aus Kastanienmännchen.

Ich bog in unsere Straße ein und durchsuchte die Taschen meines Mantels nach dem Hausschlüssel. Links ertönte das bekannte Klimpern. Ich zog den Bund heraus und schaute in Richtung Haustür.

Reflexartig blieb ich stehen. Was zur Hölle?

„Es tut mir leid, dass ich hier einfach so auftauche. Ich habe mir Sorgen gemacht, nachdem Sie vorhin geflüchtet sind. Ich wollte nur sehen, ob sie wohlbehalten zuhause angekommen sind."

Schief lächelnd und sichtlich verlegen begrüßte mich Cornelia Leitz.

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