Zufall?

67 6 0
                                    

Der Wecker riss mich am früh aus meinem traumlosen Schlaf.
Nachdem Dr. Berg gegangen war, hatte ich einige weitere Stunden am Bett von Catri verbracht. Ebenso waren ihre Eltern dazu gekommen und wir hatten uns kurz über deren Besuch im Kommissariat unterhalten. Ich erfuhr, dass es bei den Ermittlungen nichts Neues gab, die Polizei aber viele Hoffnungen auf den öffentlichen Zeugenaufruf setzte. Dieser sollte in den verschiedenen Tageszeitungen Berlins erscheinen, sowie auf der Internetpräsenz der Polizei.
Angelika schien besser mit der Lage ihrer Tochter umzugehen. Wir blieben einige Zeit zusammen sitzen, ehe ich mich verabschiedete. Draußen schaltete ich mein Handy wieder ein und schrieb Vera eine SMS, in der ich ihr mitteilte, dass ich auch heute in meiner Wohnung bleiben würde. Ich hatte den Entschluss gefasst, dass ich am nächsten Morgen wieder in die Boutique arbeiten würde. Ich brauchte Ablenkung und einen Alltag, soweit dies eben möglich war. Deshalb hatte ich mir den Wecker überhaupt gestellt.
Ich verließ das Bett und stellte im Badezimmer die Dusche an. Nachdem diese die gewünschte Temperatur erreicht hatte, in meinem Fall so heiß, dass sich im Badezimmer ein wohliger Nebel gebildet hatte, zog ich mir das Nachthemd über den Kopf und stieg unter den Wasserstrahl. Was gab es besseres als eine heiße Dusche an einem kalten Oktobermorgen?
, hier in diesen Minuten unter dem heißen Regen, war die Welt in Ordnung. Mein Gesicht zeigte ein Lächeln, denn hier gab es nur mich und meine gerötete Haut. Ich seifte erst meinen Körper, dann meine Haare gründlich ein. Während beides einwirkte, hielt ich mich selbst fest umklammert. Mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf genoss ich das prasselnde Geräusch des Wassers.
Nachdem ich jeglichen Schaum abgespült hatte, verließ ich die Dusche Minuten später.
Eingehüllt in meinen Bademantel und mit einem Frotteeturban auf dem Kopf lief ich in die Küche, um die Kaffeemaschine in Betrieb zu nehmen.
Ja, ich freute mich auf diesen Tag. Auf die Arbeit, auf Vera und auch auf Catri, denn nach der Arbeit wollte ich wieder zu ihr ins Krankenhaus fahren. Klar, es war in dieser Situation komisch, mich auf sie zu freuen. Ich hatte allerdings gemerkt, wie gut mir der gestrige Tag getan hatte. Ich war bei ihr gewesen und sie bei mir. Er hatte mir nochmal verdeutlicht, wie sehr sie mir fehlte. Doch ich konnte etwas dagegen tun, ich konnte bei ihr sein. Selbst wenn es nicht vergleichbar war, es tröstete mich. Ich wurde davon beflügelt, dass ich es geschafft hatte, mich mit der Situation auseinanderzusetzen. Natürlich, da war die Sache mit der Patientenverfügung und mit dem Risiko, dass Catri nicht mehr zu Bewusstsein kommen würde, dass die Schäden an ihrem Gehirn zu groß waren. Doch an diesem Morgen hatte ich das Gefühl, dass alles gut werden würde. Dass es sich klären würde und wir es gemeinsam schaffen könnten.
Beflügelt von meiner neuen Energie und Einstellung stellte ich die Musikanlage an, während der Kaffee in meine Tasse lief. Heute sollte ein guter Tag werden.

Mit der vollen Tasse in beiden Händen stellte ich mich ans Fenster und sah hinaus auf die Straße. Ich beobachtete die Menschen, die in geschäftigem Treiben unterwegs zu sein schienen. In diesem Moment fragte ich mich, warum sich Agnes Lehmann eigentlich nicht gemeldet hatte. Der Kommissar schien noch nicht mit ihr gesprochen zu haben. Hatte sie etwa nicht versucht, Catri zu erreichen? Obwohl die beiden sonst mehrmals die Woche Kontakt hatten? Wieder spürte ich eine zarte Eifersucht in mir. Es war komplett irrational, ich wusste um Catris Liebe zu mir und doch konnte ich dieses Gefühl über die Jahre nicht vollends abstellen. Agnes Lehmann war ihre Vertraute, beste Freundin und noch immer eine Art Mentorin für sie. Sie verstand Catri auf einer anderen Ebene, als ich es tat. Zumindest war es mir in der Vergangenheit oft so vorgekommen. Die beiden schienen oft nur durch Blicke zu kommunizieren. Sicher, ich konnte Catri gut einschätzen, sah ihr an, wenn etwas nicht stimmte, selbstwenn sie dies vor mir zu verbergen versuchte. Doch diese Verbindung, die die zwei miteinander teilten, die hatten wir nie erlangt. Es wunderte mich daher umso mehr, dass ich von der dunkelhaarigen Professorin nichts gehört hatte. Ich nahm mir vor, dass ich mich bei ihr melden würde. Meine Freundin konnte jede Unterstützung gebrauchen, da musste ich meine egoistischen Gefühle zurückstellen. Zumal ich mir damit selbst nicht guttat und ich weiteren emotionalen Stress nun wirklich nicht gebrauchen konnte.
Mit einem Kopfschütteln über meine Gedanken stellte ich die Tasse in die Geschirrspülmaschine und begab mich zurück ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen.
Ich wählte einen schwarzen Bleistiftrock und eine weiße Bluse. Dazu kombinierte ich eine dunkle Strumpfhose und dunkle Pumps. Meine langen, dunklen Haare steckte ich nach oben, im Bad trug ich etwas Make-up auf, um die Spuren der letzten Tage weitestgehend zu beseitigen. Vielen Menschen war es ein Graus den ganzen Tag im Business-Outfit und mit hohen Schuhen durch die Büros zu tigern, doch ich liebte es. Catri war da anders. Zwar hatte sie auch einige dieser Outfits in ihrem Schrank, allerdings überwogen die, für sie, bequemeren Jeans, Shirts und Hoodies. In Gedanken öffnete ich eine Türe ihres Schrankes und strich mit den Fingerspitzen über die fein säuberlich auf Bügeln aufgehängten Pullover. Den Ärmel ihres liebsten Stückes zog ich etwas heraus und roch daran. Obwohl er frisch gewaschen war und in Wirklichkeit nur nach Waschmittel und Weichspüler duftete, glaubte ich für einen Moment ihren Geruch wahrzunehmen. Ihr Parfum, ihren ganz eigenen Körpergeruch. Ich nahm mir vor, ihr am Abend den Pullover mit ins Krankenhaus zu nehmen, in der Hoffnung, dass er am nächsten Tag etwas nach ihr riechen würde, auch wenn ich ihn ihr nicht anziehen konnte. Es würde nur verhindern, dass Ärzte und Schwestern jederzeit ungehindert an die Schläuche und Kabel herankämen. So trug sie nichts von ihrer eigenen Kleidung, sondern nur ein weißes Krankenhaushemd, in dem sie umso blasser aussah und die Blutergüsse noch schlimmer hervortraten.

BleibWo Geschichten leben. Entdecke jetzt