Ohnmacht

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Dr. Leitz hatte mich mit dem Aufzug zwei Stockwerke tiefer gebracht. Jetzt standen wir vor einer ausladenden Türe mit zwei Flügeln. Auf den Milchglasscheiben stand in großen Buchstaben:

NEUROCHIRURGISCHE INTENSIVSTATION

BITTE KLINGELN

Dr. Leitz hielt ihre Zugangskarte vor einen Empfänger an der Wand neben der Türe und die beiden Flügel schwangen nach innen auf. Vor mir tat sich ein langer Gang auf, an dessen linker Seite viele Türrahmen lagen. Inmitten der Station prangte rechts ein großer Tresen. Daneben standen einige Stühle. Ich sah, dass Catris Eltern zusammen mit Dr. Berg dort saßen. Aus der Entfernung konnte ich allerdings keine Emotionen auf ihren Gesichtern lesen. Ich folgte der Psychologin, die direkt den Weg in Richtung des Tresens eingeschlagen hatte. Als wir am ersten Türrahmen vorbei schritten, ließ ich meinen Blick suchend in das Zimmer gleiten. Ich konnte jedoch nicht mehr erkennen, als das mindestens ein Bett in dem Zimmer stand. Ich meinte, ein Piepen zu hören, dann waren wir auch schon an der Tür vorbei. Ich merkte, dass Dr. Leitz mich genau im Blick behielt. Ich war gefühlt in der letzten Stunde selber zur Patientin geworden.

Nach ein paar Metern erreichten wir Ralf, Angelika und den Arzt. Angelika musste nochmal geweint haben, ihre Wangen zeigten deutliche Spuren von Tränen. Erneut versuchte ich, mich für das Unvermeidliche zu wappnen. Ich wollte zu Catri, keine Frage aber die Worte von Dr. Berg und Dr. Leitz hatten mir zusätzlich Angst bereitet. Ich kannte viele Krankenhausserien, allen voran Grey's Anatomy. Catri und ich waren große Fans der Serie und kannten alle Staffeln. Natürlich war uns bewusst, dass vieles Dargestellte in der Serie nicht die Realität spiegelte. Dennoch. Ich hatte das Gefühl, dass ich erneut einen Papierkorb überfallen musste, um das abermals aufsteigende Gefühl in meinem Hals loszuwerden. Ich sah, wie Dr. Leitz mit Dr. Berg ein paar Schritte zur Seite trat und begann mit ihm zu flüstern. Vermutlich wollte sie sich selbst auf den neusten Stand bringen und wissen, wie der Besuch von Catris Eltern bei ihrer Tochter verlaufen war, sofern sie wirklich schon bei ihr gewesen waren. Ich legte Angelika meine Hand auf die Schulter und sie ergriff diese sofort. Sie sagte jedoch nichts, aber ich glaubte, dass sie meine Hand kurz und kaum merklich drückte.
„Frau Zander, Sie dürfen jetzt kurz zu Ihrer Lebensgefährtin. Aber wirklich nur kurz. Fünf Minuten. Danach möchte ich, dass Sie nochmal in den Besprechungsraum kommen. Ich gehe mit Herrn und Frau Brückner vor und Sie kommen dann bitte mit Dr. Leitz nach." Dr. Berg nickte der Psychologin kurz zu und bedeutete Angelika und Ralf, ihm zu folgen.
Ich sah ihnen nach, wie sie durch die große Stationstüre verschwanden. Der Psychologin sagte ich, dass ich bereit war. Sofern ich dies überhaupt sein konnte. Wir nahmen unseren Weg erneut auf und liefen den Flur ein paar Meter hinab. Vor dem letzten Türrahmen blieb Dr. Leitz stehen. „Ich bin direkt hinter Ihnen. Atmen Sie bitte nochmal tief durch."

Ich tat wie mir aufgetragen und betrat das Zimmer. Direkt gegenüber der Türe lag eine große Wand und vor dieser stand ein Bett. Das Fußteil zeigte in Richtung Türe. Links, rechts und über dem Bett waren einige Geräte und zwei Monitore positioniert. Das Licht war gedimmt und so sprangen mir die bunten Anzeigen der Monitore umso mehr ins Auge. Überhaupt hatte ich das Gefühl, in einer wild blinkenden Welt gelandet zu sein. So gleißend das Licht auf dem Flur gewesen war, so dunkel war es hier. Die Jalousien, die eine große Fensterfront zu meiner linken verdunkelten, taten ihr Übriges daran. Vor ein paar Wochen waren Catri und ich mit Freunden beim Laser Tag gewesen, ich fühlte mich sofort daran erinnert. Möglicherweise waren meine Sinne nur völlig übersteuert. Ich ließ den Blick weiter streifen, trat aber keinen Schritt näher an das Bett heran. Das Kopfteil war leicht erhöht. Die Person in dem Bett könnte mühelos erkennen, wer hier im Türrahmen stand. Warum sagte sie denn nichts? Wieder wanderte mein Blick zu den vielen Geräten. Irgendetwas hielt mich davon ab die Person im Bett näher zu betrachten. Ich sah, dass aus einigen der Geräte Schläuche von unterschiedlichem Durchmesser in Richtung des Bettes führten. Zwei besonders dicken Schläuchen folgte mein Blick vom Gerät hinüber zum Bett. Sie verliefen parallel, bis sie zusammen in einem dünneren Schlauch endeten. Dieser war kurz und wurde von etwas gehalten. Ich starrte ihn für einige Sekunden an, erst dann konnte ich das komplette Bild wahrnehmen. Er endete im Mund eines Menschen. Langsam trat ich ein paar Schritte näher. Über dem Mund mit dem Schlauch erkannte ich eine Nase, links und rechts zwei Wangen. Dies erschienen mir unwirklich dunkel. Meine Augen hatten sich nicht an das schummrige Licht gewöhnt.
Mein Blick wanderte höher. Zwei Augen, geschlossen und mit Sicherheit von dicken Blutergüssen eingefasst. Blutergüsse. Deshalb waren die Wangen so dunkel. Die Stirn der Person war lila verfärbt, zumindest der Teil, den man unter dem dicken, weißen Verband erkennen konnte. Dieser schlängelte sich wie ein Turban fest um den Kopf der Person. Ich sah, dass an einigen Stellen blonde Locken aus dem Verband herausfielen.
Blonde Locken, wie bei meiner Catri schoss es mir durch den Kopf.
Catri. Richtig. Dr. Leitz hatte mich in dieses Zimmer geführt. Ein anderes Bett hatte ich nicht entdeckt. Die junge Frau, die man unmöglich als diese erkennen konnte, war Catri. Meine Catri. Mit entstelltem, verquollenen Gesicht, einem Beatmungsschlauch im Mund und einem dicken Kopfverband. Die Erkenntnis prasselte auf mich ein und ich merkte, erneut die Übelkeit in meinem Magen.
Ich trat noch ein paar Schritte näher, bis ich neben Catri am Bett stand. Aus ihrem Körper kamen an den verschiedensten Stellen Schläuche. Unter anderem aus ihrem Kopf. Drainagen, schoss es mir durch den Kopf. Dr. Berg hatte sie ja erwähnt. Das alles machte mir eine Scheißangst. Ich wollte Catri berühren, ihr über den Kopf und die Wangen streicheln, aber ich traute mich nicht. Ich hatte Angst, dass sie unter meiner Hand zu Staub zerfallen könnte. Mein Blick fiel auf ihre Arme und Hände. An ihnen waren einige Blutverkrustungen zu sehen. Ich wollte etwas sagen, aber ich brachte keinen Ton heraus. Ich stand wie gelähmt an ihrem Bett. Ich wollte ihr sagen, dass sie aufhören könne. Sie sollte aufstehen. Sie wisse doch, dass ich sie liebte. Sie musste mir nicht so eine Angst einjagen. Ich wusste auch so, dass ich sie nie wieder gehen lassen würde. Das alles konnte nur ein Scherz sein. Abermals hatte ich das Gefühl, dass ich endlich aufwachen müsste. Ich hatte mit Sicherheit längst verschlafen. Gleich würde Catri in unser Schlafzimmer stürmen und mich aus den Federn werfen. Mein kleiner Wirbelwind.
Aber Catri würde nicht aufstehen. Sie würde mich nicht anlächeln und mir sagen, dass sie mich liebt. Vielleicht nie wieder.

„Catri", flüsterte ich erneut und um mich herum wurde alles dunkel.

„Margo, wach bitte auf. Margo!"
Jemand rief eindeutig nach mir. Ich hörte die Stimme nur gedämpft, aber sie kam mir bekannt vor.

„Margo"

Wieder diese Stimme. Ich versuchte, die Augen zu öffnen und sofort schoss ein spitzer Schmerz durch den Kopf. Auf halbem Wege ließ ich meine sie sofort wieder zufallen.

„Margo. Gott sei Dank."

„Ich glaube, sie wird wach."

Erneut diese Stimme. Jetzt erklang noch eine zweite. Ich glaubte, diese schon mal gehört zu haben. Ich wagte dennoch nicht meine Augen nochmal zu öffnen. Der Schmerz, der noch immer in meinem Kopf nachhallte, reichte mir.

„Frau Zander, können sie mich hören?"

Erneut erklang die andere bekannte Stimme, eindeutig männlich.

Ich versuchte, meinen Arm zu heben, um mich bemerkbar zu machen und zu zeigen, dass ich die beiden verstehen konnte.

„Ich nehme das als Zeichen, dass Sie uns hören können. Sie hatten einen Schwächeanfall. Können Sie sich erinnern?"

Mich erinnern? Was meint er damit und wo hatte ich den Schwächeanfall?
Ich versuchte, mich trotz wahnsinniger Kopfschmerzen zu erinnern.
Catri, schoss es mir durch den Kopf. Auf einmal waren die ganzen Geschehnisse der letzten Stunden zurück. Catris Brief, ihre Eltern, das Krankenhaus und letztendlich Catri auf der Intensivstation. In meinen geschlossenen Augen sammelten sich Tränen und ich spürte, wie sie mir langsam an den Wangen hinab liefen.

„Hey ganz ruhig. Wir sind ja hier.", sagte die Frau, dessen Stimme ich bisher nicht zuordnen konnte, dicht neben meinem Ohr.

Doch jetzt war ich mir sicher, dass Vera neben mir stand. Sie war mit den Brückners und mir ins Krankenhaus gekommen. Nachdem ich neben Catris Bett zusammengebrochen war, hatten sie Vera vermutlich dazu geholt. Ich war dankbar, dass meine beste Freundin da war. Ob man sie inzwischen eingeweiht hat? Erneut versuchte ich, meine Augen zu öffnen. Diesmal gelang es mir, ohne dass ich das Gefühl hatte, dass mir jemand einen Dolch durch den Schädel rammte.
Vera stand tatsächlich dicht neben mir und hielt meine linke Hand in ihrer. Daneben Dr. Berg und auch Frau Dr. Leitz war da. Ich sah, dass ich wieder unter gleißend hellen Neonröhren lag und musste unweigerlich blinzeln. Man hatte mich also aus Catris Zimmer gebracht.

„Vera, kannst du mir aufhelfen?", bat ich mit zittriger Stimme meine beste Freundin. Ich war in diesem Moment unheimlich dankbar dafür, dass sie mit uns ins Krankenhaus gekommen war.

„Natürlich. Ich ziehe dich hoch." Vera lehnte sich ein Stück zurück und zog mich auf die Kante der Liege.
„Bleiben Sie bitte noch einen Moment sitzen", wendete sich Dr. Berg an mich. „Sie haben einen Kreislaufkollaps erlitten, vermutlich durch den psychischen Stress ausgelöst. Das ist keine Seltenheit. Ihre Werte haben wir überprüft. Es ist physisch gesehen alles in Ordnung."
Ich sah mich nicht in der Lage zu antworten. Ja, physisch gesehen vielleicht. Doch in meinem Inneren klaffte ein riesiges schwarzes Loch, welches weiterhin damit beschäftigt war, alles in sich hineinzufressen.

„Ich würde gerne nachhause gehen. Vorausgesetzt das ist möglich?", fragte die Ärzte.

„Das ist möglich. Sie sollten jedoch nicht alleine bleiben.", empfahl Dr. Leitz.

Bevor ich etwas sagen konnte, erklärte Vera, dass sie mich nachhause begleiten würde und auch die Nacht bei mir verbringen würde.
„Bevor Sie gehen möchte ich Ihnen noch meine Visitenkarte geben. Ihre und die Nummer von Herrn und Frau Brückner haben wir bereits notiert. Wenn es Neuigkeiten gibt, werden wir Sie natürlich umgehend informieren. Der zuständige Kommissar der Polizei wird sich ebenfalls morgen mit Ihnen in Verbindung setzen."

„Ist gut.", sagte ich und stand mit diesen Worten von der Liege auf. Meine Beine waren weich wie Butter und ich war dankbar, dass Vera mich stützte.
Ohne mich noch einmal umzudrehen, verließen wir die Charité. Zum Glück standen auch spät am Abend Taxis vor dem Taxistand am Haupteingang.

„Vera, kann ich mit zu dir kommen? Ich kann momentan nicht in meine Wohnung. Das würde ich nicht aushalten." Erneut spürte ich, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten.

„Natürlich Margo. Das verstehe ich."
Zusammen stiegen wir in das erste Taxi in der Reihe und fuhren in Richtung Vera's Wohnung.

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