Einatmen. Ausatmen.

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Die Sonne strahlte an diesem schönen Nachmittag im Herbst vom Berliner Himmel. Ich sog die frische Luft durch die Nase tief in meine Lunge. Hätte man ein Foto aufgenommen, so hätte dieses dem Betrachter vorgaukeln können, dass es noch immer Sommer war. Das einzige Indiz auf den Fortschritt im Kalender waren die Bäume, die inzwischen kaum noch Blätter trugen. Langsam atmete ich wieder aus, den Blick weiterhin auf den Himmel über mir gerichtet. Es duftete förmlich nach Herbst. Zumindest stellte ich dies immer wieder fest. Für mich rochen Jahreszeiten unterschiedlich. Woran genau ich dies festmachte, konnte ich nicht sagen. Es waren keine konkreten Gerüche. Nicht der Sommerduft, den ich an Sonnencreme erkannte, nicht den Frühling, der nach Blüten roch.
Ich ließ den Blick sinken und beobachtete die Enten, die unter der Brücke auf der Spree schwammen. Meine Unterarme legte ich auf dem Geländer ab und faltete die Hände.

Einatmen. Ausatmen. Ruhig und kontrolliert.

Der Tag war lange nicht am Ende, oder besser die Termine. Nach meinem gestrigen Besuch im Krankenhaus wurde ich beim Gehen nochmals an die Patientenverfügung erinnert. Dies hatten leider Catris Eltern mitbekommen und das hatte wiederum eine längere Diskussion mit sich gezogen. Natürlich wollte keiner von uns, dass sie zur Anwendung kommen würde. Doch vielleicht musste sie das, vielleicht gab es keinen anderen Weg. Catri hatte es so bestimmt und selbst wenn sich alles in uns dagegen sträubte, hätten wir im Fall des Falles keine andere Wahl. Oder?

Wer wäre ich, ihre Entscheidung zu übergehen. Wer wären wir, wenn wir sie nicht akzeptieren würden?

Nach dem emotionalen Wortgefecht hatten wir uns dazu entschieden nochmals ein klärendes Gespräch mit den behandelnden Ärzten zu führen. Oder besser gesagt mit dem behandelnden Arzt. Einen anderen als Dr. Berg hatten wir schließlich seit dem ersten Abend nicht mehr zu sehen bekommen. Gleiches galt zum Glück ebenfalls für Dr. Leitz. Sie war glücklicherweise nicht auf Station aufgetaucht und ich hatte mich nach meinem Besuch erfolgreich davon gestohlen. Natürlich nicht ohne mich gefühlt hundert Mal umzusehen.

Zuhause angekommen hatte ich das Schriftstück herausgesucht und nochmal genau durchgelesen. Die Entscheidung war eindeutig und dennoch hatte ich die Hoffnung, dass es einen gewissen Spielraum gab.

Ich lag lange wach und ließ mir erneut die Worte von Angelika und Ralf durch den Kopf gehen, darauf folgte gedanklich der Besuch von Cornelia Leitz in der Boutique und letztendlich Veras Worte. Das Überlegen führte wiederum dazu, dass ich an diesem Morgen erneut platt und wenig ausgeruht aus dem Bett stieg. Meine Augenringe erreichten neue Dimensionen und mein Concealer sein Limit. Mit Kopfschmerzen und einem mulmigen Gefühl machte ich mich auf den Weg zur Boutique. Ich hasste es, wenn Vera und ich stritten. Es kam, zum Glück, nicht oft vor und endete meist in einer tränenreichen Versöhnung. Diesmal lagen die Streitgründe jedoch etwas anders. Ich sah wirklich nicht, was ich falsch gemacht haben sollte. Was konnte ich für das Verhalten von anderen Menschen? Vera hatte überreagiert und ich würde gewiss nicht klein bei geben. Ich hatte andere, größere Probleme als meine beste Freundin, die Gespenster sah. Eine Entschuldigung und eine Erklärung ihrerseits und die Sache wäre vergessen und ich hoffte zu dieser Zeit noch inständig, dass ich beim Betreten unseres Ladens genau diese beiden Sachen bekommen würde. Weit gefehlt, wie ich schnell feststellte. Wir begrüßten uns zurückhaltend und unterkühlt. Ein gemurmeltes „Guten Morgen" beiderseits, kein gemeinsamer Kaffee und auch ansonsten gingen wir uns den Tag über aus dem Weg. Zum Glück war auch heute wieder Betrieb und ich hatte nicht allzu viel Zeit, mich über Veras Verhalten aufzuregen.

Mit einem knappen „bis Morgen" verabschiedeten wir uns vor einer halben Stunde und nun stand ich hier, blickte in den blauen Himmel und auf den Fluss unter mir und fragte mich, was der Kommissar mir in wenigen Minuten mitteilen würde. Dass ich Zeit schindete, war mir klar. Hatte ich in den letzten Tagen nicht genug Hiobsbotschaften erhalten? Gab es nicht genug Fragen? Ich wollte absolut nicht zusätzliche ungelöste Rätsel. Sicher, es bestand eine Chance darauf, dass er heute Antworten für mich hatte, aber würden mir diese auch gefallen? Wie wahrscheinlich war es überhaupt, dass es „gute" Antworten gab? Wie sollte diese, beispielsweise auf die Sache mit dem Ausweis, lauten? Man musste nicht bei der Polizei arbeiten, um zu wissen, dass Catri diesen Ausweis nicht zufällig in ihrer Jacke hatte. Nicht mit diesem Bild. Dementsprechend war eine Antwort wie „Ihre Freundin hat ihn eventuell nur gefunden und wollte ihn sicherlich im Fundbüro abgeben" ausgeschlossen. Gleiches galt für die Frage nach dem Unfallverursacher. Wäre es mir lieber wenn die Antwort „Er war betrunken und hat es nicht gemerkt" oder „Er war betrunken und hatte Angst um seinen Führerschein" oder vielleicht doch eher „Er war nicht betrunken und hat Ihre Freundin mit voller Absicht liegen lassen" lauten würde? Machte es überhaupt einen Unterschied am Ende? Das Ergebnis war schließlich dasselbe. Ich schüttelte meinen Kopf leicht und ging weiter in Richtung des Reviers. Was auch immer da kommen würde, ich würde es ertragen müssen. Irgendwie.

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