Ich erwachte mit Kopfschmerzen und musste mich erstmal orientieren, nachdem ich die letzten Nächte in Veras Wohnung verbracht hatte. Ich hob meinen Kopf vom Kissen und sah aus dem Fenster in den Berliner Himmel. Dieser war so grau, dass keinerlei Zeitbestimmung anhand des Tageslichts möglich war. Schon gestern hatte es mittags angefangen, zu regnen. Offenbar hatte es über Nacht nicht aufgehört. Die Äste der Kastanie vor dem Haus bogen sich im Wind. Das waren die unschönen Seiten des Herbstes. Ich mochte Wind, ich hatte etwas für Sturm übrig. Doch gepaart mit Sprühregen? Unwillkürlich zog ich die Bettdecke etwas höher, sodass mein Kinn darunter verschwand. Ich fühlte mich absolut kraftlos und ausgelaugt. Ich fragte mich, wie ich überhaupt vom Sofa in das Bett gekommen war. Vermutlich nur mit Veras Hilfe und mehr schlafend als wach. Ich überlegte fieberhaft, doch mein Gehirn spuckte keine brauchbare Erinnerung aus.
Wie gerne ich mich jetzt an den warmen und weichen Körper meiner Freundin geschmiegt hätte. Selbst wenn es draußen furchtbar kalt und ungemütlich war, ihre Nähe wärmte mich. Dann tranken wir zusammen auf dem Sofa eine Kanne Tee und teilten uns die Decke. Ich wünschte mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als diese Momente in diesem Herbst zu erleben. Aber wie wahrscheinlich war das? Mir wurde bewusst, dass ich unbedingt nochmal ein Gespräch mit den zuständigen Ärzten führen musste. Ich musste mich endlich dazu überwinden, zu agieren und nicht nur zu reagieren. Zuerst würde ich Angelika und Ralf anrufen und herausfinden, ob der Kommissar schon mit ihnen gesprochen hatte. Danach würde ich zu Catri fahren. So ging es nicht mehr weiter. Ich hoffte nur, dass mein Körper das mitmachen würde.Damit ich auch wirklich bei den gefassten Vorsätzen blieb, schwang ich die Beine sofort aus dem Bett. Meine Füße berührten den kalten Holzfußboden und ich bereute es, dass wir keinen Teppich im Schlafzimmer hatten. Im Sommer war es akzeptabel, doch im Herbst und Winter fand ich es mehr als nur unangenehm. Bevor die Kälte die Chance hatte mich vollends zu packen, ging ich schnell zum Schrank hinüber und zog die Schublade mit den Kuschelsocken auf. Catri lachte mich immer dafür aus, doch ich war der festen Überzeugung, dass sie es insgeheim niedlich fand. Zugegeben, selbst ich war der Meinung, dass diese Socken mehr zu Zwölfjährigen passten, als zu mir. Doch ich erlaubte mir diesen kleinen modischen Fauxpas, letzten Endes musste ich beruflich an sechs Tagen der Woche einwandfrei gekleidet sein. Nicht, dass mir das ehrlich etwas ausgemacht hätte. Ich liebte es. Wenn andere Frauen erzählten, dass sie abends zuerst die Heels von den Füßen kickten, sich von Bluse und Rock befreiten, um dann in einer Jogginghose und Pullover zu enden, musste ich innerlich lächeln. Ich behielt meine Tageskleidung oft bis spät abends an, wusch mir nicht sofort das Make-up vom Gesicht. Nur die Schuhe mussten aufgrund unseres Holzbodens weichen. Ich kam mir nicht verkleidet vor, schon in der Oberstufe hatte ich einen Nebenjob in einer kleinen Boutique. Ich verbrachte dort viele Nachmittage und oft zog ich schon morgens zur Schule die Kleidung für die Arbeit an. Die Inhaberin war immer bedacht darauf, dass ihre Angestellten gut gekleidet waren. Wir repräsentierten sie und ihr Geschäft und so gewöhnte ich mich schnell daran, den ganzen Tag in hohen Schuhen und engen Blusen zu verbringen. Wenn andere Mitschüler die neusten Sneaker bekannter Marken zur Show trugen, dann waren es bei mir die neusten Heels und Pumps.
Ich durchquerte das Wohnzimmer und mein Blick fiel auf das Regal mit Vinyls. Ich lief hinüber und ließ meinen Zeigefinger über die Rückseiten der Kartons gleiten. Die meisten der Platten gehörten Catri. Wir teilten zwar nicht unbedingt immer den gleichen Geschmack, aber mich überkam augenblicklich eine Sehnsucht nach ihrer Musik. Ich schnappte mir eine der Hüllen und zog die Platte hinaus, um sie sogleich auf den Plattenspieler zu legen. Mit ein paar Knopfdrücken war die Anlage eingeschaltet und die Töne des ersten Songs hüllten die Wohnung.
Endlich keine Stille mehr.
Normalerweise konnte ich Stille gut ertragen. Ich genoss sie an manchen Tagen regelrecht, aber momentan drückte diese Stille etwas aus, das ich nicht an mich heranlassen mochte. Ich wollte mir keine Gedanken über das, was wäre wenn machen. Vermutlich würde ich in naher Zukunft nicht daran vorbei kommen, aber nicht an diesem Morgen. Nicht, nachdem ich mich aufgerafft hatte. Woher immer diese Kraft herkam, ich wollte sie nutzen.
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Bleib
RomanceWas passiert, wenn dein Leben vom einen auf den anderen Moment völlig aus den Fugen gerät? Der Antwort muss sich Margo Zander stellen. Die erfolgreiche Berliner Geschäftsfrau lebt seit fünf Jahren mit ihrer Lebensgefährtin Catri zusammen, bis ein sc...