Noch mehr Fragen

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Was hat das zu bedeuten?" Meine Stimme zitterte, als ich vom Ausweis hochblickte und in das Gesicht von Kommissar Brandt sah.

„Das würde ich gerne von Ihnen wissen", entgegnete er mir.

Ich sah wieder auf meine Hände, mit denen ich weiterhin die kleine Plastiktüte mit dem ukrainischen Ausweis umklammerte. Meine rechte Hand hatte sich, ohne dass ich es gemerkt hatte, zu einer Faust verzogen. Diese hielt ein Stück des Plastiks umklammert. Die Knöchel traten weiß hervor und ich lockerte meinen Griff etwas, damit die Tüte nicht beschädigt werden würde. Meine Gedanken überschlugen sich und ehe ich sie ordnen konnte, verließen sie meine Lippen. „Was macht dieses Bild von Catri auf dem Ausweis? Wieso haben Sie diesen Ausweis? Wo kommt er her?"

„Ganz ruhig, Frau Zander." Er hob die Arme zu einer beschwichtigenden Geste.

Offenbar war der Polizist guter und böser Cop in einer Person, oder er hatte endlich gemerkt, dass er von mir keine Antworten erwarten konnte, da ich sie einfach nicht kannte. Er musste gesehen haben, dass meine Reaktion auf die kleine Plastikkarte echt war. Zumindest hoffte ich das.

„Das Krankenhaus hat uns diesen Ausweis übergeben. Sie haben ihn in der Kleidung ihrer Lebensgefährtin gefunden." Er machte eine kurze Pause, vermutlich um meine Reaktion abzuwarten. Doch ich starrte nur weiter das Bild von Catri und die kyrillischen Buchstaben daneben an.

„Ich hatte gehofft, dass sie etwas zur Aufklärung beitragen können, wie ihre Freundin in den Besitz des Ausweises kommen konnte."

Ich schaute erneut auf und sah, dass er mich fragend ansah. Seine Gesichtszüge waren derweil deutlich weicher und außerdem fehlten die Gewehrsalven. Ich versuchte, mich etwas zu entspannen, sofern das überhaupt zu diesem Zeitpunkt möglich war. Kurz überlegte ich, wann ich eigentlich das letzte Mal entspannt gewesen war. Mir fiel der Besuch in einer Therme am Sonntag vor zwei Wochen ein. Catri und ich hatten uns den ganzen Tag Saunagänge, Whirlpool und Bäder gegönnt. Doch der Gedanke daran entspannte mich nicht mehr, das Gegenteil war der Fall.

„Es tut mir leid Herr Brandt, ich habe hierfür keine Erklärung. Den Ausweis sehe ich heute zum ersten Mal.", seufzte ich.

„Mmh. Können Sie sich vielleicht erklären, warum sie einen solchen Ausweis überhaupt besitzt?" Er fuhr sich mit der linken Hand über seinen Bart und kratze sich anschließend die rechte Wange.

Ich fragte mich, ob es ihm unangenehm war, wie er vor ein paar Minuten mit mir umgegangen war.

„Ich wüsste nicht, warum sie ihn benötigen würde. Wie sie ja sicherlich schon wissen, arbeitet Catri als Journalistin für den Merkur. Ich kenne mich nicht aus, aber ich denke nicht, dass man so einfach an einen Ausweis eines anderen Landes kommt."

„Nun. Der Ausweis ist eine Fälschung, Frau Zander."

„Eine Fälschung? Warum sollte Catri einen gefälschten Ausweis mit sich rumschleppen?", meine Stimme war einige Tonlagen höher und lauter. Das wird ja immer besser.

„Das sind alles Fragen, die wir uns zur Zeit stellen. Der Ausweis ist eine sehr gute Fälschung. Er war bestimmt nicht billig. Wir versuchen derzeit herauszufinden, ob er hier in Deutschland oder in der Ukraine gefertigt wurde. War ihre Freundin in letzter Zeit im Ausland?"

Ich ließ mein Becken etwas weiter zur Stuhlkante rutschen, sodass ich tiefer auf dem Stuhl sitzen konnte. Die Anspannung war aus meinen Muskeln gewichen. Herr Brandt schlug versöhnlichere Töne an und ich war froh darum. Ich wusste nicht, wie viel mein Nervenkostüm noch aushalten würde. Der Inhalt seiner Worte war schon verwirrend genug, da brauchte ich nicht noch seinen scharfen Tonfall. Ich überlegte einen Moment, bevor ich antwortete. „Sie ist öfter mal für ein paar Tage weg. Wo genau sie sich dann aufhält weiß ich nicht. Wie gesagt, sie ist Journalistin. Eine recht ambitionierte dazu. Sie gab für ihr fehlen auch immer dies als Grund an und ich hatte wiederum keine Gründe daran zu zweifeln. Vielleicht sollten Sie mit dem Chefredakteur des Merkur sprechen, er wird ihnen sicher mehr zu ihren Recherchereisen sagen können. Eventuell auch Agnes Lehmann."

„Wer ist diese Agnes Lehmann?", fragte er und zog seine Stirn in Falten. Bevor ich antwortete, holte er einige weiße Blätter und einen Kugelschreiber hervor, um sich Notizen zu machen.

„Agnes Lehmann ist Professorin für Journalistik an der Universität. Catri kennt durch ihr Studium, da sie ihre Professorin war. Die Beiden verbindet heute eine tiefe Freundschaft. Ich bin mir auch sicher, dass Agnes Lehmann mehr über ihre Reisen weiß als ich."

Es war dem Kommissar nicht entgangen, dass sich in meine Worte ein scharfer Unterton geschlichen hatte. Er blickte von seinem Zettel auf und sah mich an. „Wie eng ist diese Freundschaft genau?"

„Sehr eng. Aber wirklich nur freundschaftlich. Frau Lehmann ist verheiratet und Catri, Catri hat mich.", erwiderte ich schroff.

Er sah mich nur an und sagte nichts weiter dazu. Ich nutzte die kurze Stille, um endlich meine Frage loszuwerden.

„Herr Brandt, ich würde gerne wissen unter welchen Umständen Catri gefunden wurde?"

Er lehnte sich ebenfalls etwas in seinem Stuhl zurück und sah mir fest in die Augen. „Frau Brückner wurde von Passanten in einer Seitenstraße in Neukölln gefunden. Diese haben den Rettungsdienst informiert. Bei Eintreffen des Rettungsdienstes, das Protokoll des Einsatzes liegt uns vor, war ihre Freundin bereits bewusstlos. Vom Verursacher fehlte jede Spur. Jedoch fehlten auch Bremspuren auf der Straße. Es ist also nicht auszuschließen, dass sie vorsätzlich angefahren beziehungsweise überfahren wurde. Dr. Berg hat uns mitgeteilt, dass ihre Verletzungen für ein solches Szenario sprechen." Es herrschte Stille im Raum, eine kurze Pause, um neue Luft zu holen. „Wir werden einen öffentlichen Zeugenaufruf starten. Die Kleidung, die sie trug, wird zur Zeit kriminaltechnisch auf etwaige Spuren untersucht."

Seine Worte geisterten in meinem Kopf herum. Ich spürte, wie mir der Kaffee von heute Morgen hochkam und ehe ich etwas dagegen tun konnte, musste ich mich im Schwall übergeben. Stöhnend und nach Luft ringend beugte ich meinen Oberkörper vorne über.

Über das Platschen hinweg, welches mein Mageninhalt erzeugt hatte, als er auf den Boden traf, hörte ich, dass Kommissar Brandt aufgestanden war und zu mir herüber gekommen war. Er legte mir eine Hand zwischen die Schulterblätter und fragte mich, ob alles in Ordnung sei. Was für eine dämliche Frage.

Ich konnte nur wimmern. Es war alles zu viel, viel zu viel. Über mein Würgen hinweg hörte ich, wie er versuchte mich mit Worten zu beruhigen. Doch auch er war machtlos gegen meinen rebellierenden Magen und die kreisenden Gedanken. Ich konnte sie ja nicht mal selbst ordnen, wie sollte dies dann ein Fremder können, der sie dazu angekurbelt hatte?

Als das Würgen langsam nachließ, setzte ich mich wieder gerader auf den Stuhl. Herr Brandt reichte mir ein Taschentuch und ich tupfte mir die Tränen ab und putzte mir die Nase. Ich versuchte, so tief wie möglich Luft zu holen. Der Geschmack im Mund war widerlich und mein Magen drückte noch immer. Ich fühlte mich absolut kraftlos und ausgelaugt. Dabei hätte ich etwas Stärke und Kraft mehr als gut gebrauchen können. Wer konnte schon sagen, was mich als Nächstes erwarten würde. Mit was würde ich noch alles konfrontiert werden.

„Soll ich jemanden anrufen?", fragte er mich nach einigen Minuten.

„Es...es geht schon. Wenn Sie mir vielleicht ein Taxi bestellen könnten?"

„Sicher." Er griff nach seinem Mobiltelefon und wählte eine Nummer. Seinen Worten zu Folge, die wenige Augenblicke später durch die Leitung geschickt wurden, sprach er wieder mit der jungen Polizistin hinter dem Tresen ein Stockwerk tiefer. Nachdem er aufgelegt hatte, richtete er das Wort wieder an mich. „Meine Kollegin kümmert sich darum. Kann ich noch was für Sie tun?"

Ich schüttelte nur meinen Kopf. Es gab nichts, was irgendjemand tun konnte. Ich wollte nur noch weg und mich verkriechen.

So verharrten wir minutenlang, ohne dass jemand von uns sprach. Ich saß wie der sprichwörtliche Schluck Wasser in der Kurve auf dem Stuhl und der Kommissar stand vor mir. Zwischen uns der Fleck aus Erbrochenem. Es klopfte irgendwann an der Türe und er öffnete sie. Es war zum Glück der Taxifahrer. Ich stand auf und wankte dabei leicht. Sofort kam der Fahrer zu mir und stützte mich.

Als wir schon am Türrahmen angekommen waren, richtete Herr Brandt noch einmal das Wort an mich. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte. Meine Nummer haben Sie ja."

Wieder nickte ich nur und schwankte eingehakt beim Taxifahrer zur Türe hinaus.

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