Verpasster Anruf

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Am nächsten Morgen begrüßte mich Vera um zehn Uhr in der Boutique. In der kleinen Teeküche, die hinter unserem Ausstellungs- und Verkaufsraum lag, breitete sich der Duft von Kaffee aus. Vera hatte längst eine große Kanne aufgesetzt. Meine beste Freundin wusste, dass ich vermutlich eine schlechte Nacht hinter mir hatte. Sie wusste, dass ich beschissen schlief, wenn Catri quer durch die Bundesrepublik ihrer nächsten Story hinterherjagte. Selbst am Morgen zeigte mein Handy keine neue Nachricht von ihr. Dies hatte erneut dafür gesorgt, dass sich Wut in meinem Bauch ausgebreitet hatte. Wenigstens ein Zeichen, dass sie ebenso an mich dachte, wäre doch schön gewesen. Stattdessen hatte mich auf dem Display nur ihr Gesicht, welches ich als Hintergrundbild gespeichert hatte, angelacht. Ich setzte mich an den kleinen Tisch, der mitten in dem bescheiden Raum stand und nahm erneut mein Smartphone aus der Tasche. Wieder zeigte sich nur das strahlende Lachen von Catri. Das Bild war vor einigen Wochen bei einem Fest an der Spree entstanden. Es war ein wunderschöner Sommerabend gewesen und wir hatten bis spät mit Freunden am Ufer des Flusses gesessen. Das Bild, welches ursprünglich uns beide zeigte, hatte Vera mit meinem Handy geschossen. Catri und ich hatten nebeneinander auf einer Picknickdecke gesessen und beide in die Kamera gestrahlt. Catris grüne Augen leuchteten und ihr Lächeln wirkte nahezu außerirdisch. Als sie vor fünf Jahren die Boutique betreten hatte, hatte sie fast genauso gelächelt und ich hatte in diesem Moment gewusst, dass ich jenes Lachen nie wieder vergessen würde. Das Lachen und die Frau, zu dem es gehörte. Durch die offene Türe zur Teeküche konnte ich bis zum Eingang zu unserem Laden schauen. Ich musste automatisch daran denken, wie Catri damals die Boutique betreten hatte. Es war einer der schönsten Augenblicke in meinem Leben. Ja, für mich war es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick. Ich kannte solche Momente bis dato nur aus Romanen und kitschigen Liebesfilmen. Doch in dem Moment als die kleine Klingel über der Türe erklang und der blonde Lockenkopf im Türrahmen der breiten, doppelten Glastüre erschien, wusste ich, dass es diese Momente auch im wahren Leben gab.

„Erde an Margo! Bist du noch anwesend?" Veras Stimme holte mich aus meinen Tagträumen zurück ins hier und jetzt.

„Es tut mir leid, ich war in Gedanken. Was hast du gesagt?"

Vera hatte mir inzwischen einen dampfenden Becher Kaffee vor die Nase gestellt und ein Croissant dazu gelegt. Nichts davon hatte ich mitbekommen.

„Ich hatte gefragt ob Catri sich gemeldet hat?" Vera setzte sich mir schräg gegenüber an den Tisch. Sie hatte ebenfalls eine Tasse Kaffee und ein Croissant vor sich stehen.

„Nein, nichts. Keine SMS, keine WhatsApp, kein Anruf." Mir gelang es nicht, die Trauer in meiner Stimme zu verbergen.
Vera sah mich skeptisch über den Rand ihrer Kaffeetasse an. Sie wusste, wie es in mir aussah, wenn Catri beruflich unterwegs war und ich nicht mal ansatzweise Kenntnis hatte, wo sie sich aufhielt. Selbstverständlich machte ich mir dann Sorgen. Diesmal umso mehr. Es sah ihr nicht ähnlich einfach so zu verschwinden, ohne eine richtige Verabschiedung.

„Hast du versucht bei ihrem Chef anzurufen und nachzufragen?", erkundigte sich Vera.


„Nein. Du weißt, dass ich ihr nicht hinterher spioniere. Ich vertraue ihr und bisher hat sie mir nie einen Grund gegeben es nicht zu tun.", sagte ich mit fester Stimme. Zumindest vor mir musste ich allerdings zugeben, dass ich kurz darüber nachgedacht hatte in der Redaktion anzurufen, als ich heute Morgen keine Nachricht von ihr auf dem Handy hatte. Vera kannte mich zu gut und so musterte sie mich weiter nachdenklich.

Just in diesem Moment, als sie noch etwas sagen wollte, erklang die Klingel über der Ladentüre. Von meinem Platz aus konnte ich sehen, dass einer unserer Designer den Laden betreten hatte. Er hatte mich ebenfalls sofort entdeckt und winkte mir zu. Heute Morgen wollten wir zusammen mit ihm besprechen, wann wir seine neue Kollektion zu sehen bekamen. Ich ließ mein Smartphone zurück in die Handtasche wandern und verließ zusammen mit Vera die Teeküche. Etwas Ablenkung würde mir guttun. Ich hatte mich die ganze Woche auf den Besuch von Ben gefreut. Seine Kollektionen gehörten seit der Eröffnung der Boutique zum festen Bestandteil in unseren Regalen. Ich war gespannt, was er sich für das nächste Frühjahr überlegt hatte.
Drei Stunden später verließ Ben uns wieder. Vera und ich waren uns beide sicher, dass er sich diesmal selbst übertroffen hatte und seine Frühjahrskollektion ein voller Erfolg werfen würde. Ben war mittlerweile kein Unbekannter mehr im Modegeschäft. Schon im letzten Jahr hatte er seine Kollektion bei der Berliner Fashionweek zeigen dürfen. Wir hatten das große Glück, dass er seine Stücke exklusiv von uns vertreiben ließ. Wir kannten ihn schon lange, ehe er ein Licht am Modehimmel war. Über die Jahre war ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm entstanden. Er zeigte seine Treue, indem wir nicht nur exklusiv seine Kleidung anboten, sondern außerdem damit, dass wir sie als Erste überhaupt zu Gesicht bekamen. Durch den Termin mit Ben hatte ich praktisch für einen Moment die Sorge und Wut über Catris erneutes Verschwinden vergessen. Das Klingeln meines Smartphones, das derweil leise zu uns in den Verkaufsraum drang, erinnerte mich aber sofort wieder daran, dass ich noch immer auf eine Nachricht von meiner Lebensgefährtin wartete. Ich eilte in die Teeküche, um den Anruf entgegennehmen zu können, bevor der Anrufer aufgab. Schon möglich, dass es Catri war und vielleicht hatte sie nicht viel Zeit. Ich musste unbedingt mein Handy erreichen, ehe es wieder verstummte. Doch bevor ich die Teeküche gänzlich betreten hatte, hatte mein Handy aufgehört zu klingeln. Ich nahm die Handtasche von der Stuhllehne und fischte in ihr nach meinem Telefon. Ich drückte eine Taste an der Seite und wieder zeigte es Catris Lächeln. Doch diesmal waren da auch zehn verpasste Anrufe von ihrem Vater. Ralf Brückner hatte probiert, mich zu erreichen. Mehrmals. Die Pushmitteilungen zeigten mir, dass er zuerst versucht hatte mich von seiner Kanzlei aus anzurufen, später dann von seinem Handy. Catris Eltern, Ralf und Angelika Brückner waren beide bekannte Staatsanwälte in Berlin und über die Stadtgrenzen hinaus. In den letzten Jahren hatten beide der geholfen, einige bekannte Kriminelle hinter Gitter zu bringen. Oft hatte Catri über die Fälle im Vorfeld berichtet, jedoch nicht offiziell. So hätte man ihren Eltern nachsagen können, dass sie wichtige Informationen an die Presse gaben. Das hätte nicht nur die beiden ihren Job kosten können.
Ich bemerkte, wie sich mein Magen zusammenzog. Für die Anrufe von Ralf Brückner konnte es nur eine Erklärung geben. Es musste etwas passiert sein. Ich fühlte wie augenblicklich Übelkeit in mir aufstieg. Ich klammerte mich an die Stuhllehne und ließ meine Tasche fallen. Ich starrte wie durch einen Schleier auf das Display des Handys. So wie ich damals vom ersten Moment an gewusst hatte, dass Catri die Liebe meines Lebens ist, so wusste ich jetzt, dass etwas Furchtbares passiert sein musste. Etwas Furchtbares mit Catri. Wie gedämpft hörte ich Vera's Stimme. Sie musste ebenfalls in die Teeküche gekommen sein und jetzt hinter mir stehen. Erneut hörte ich ihre Stimme.


„Margo! Ist alles in Ordnung? Antworte mir doch bitte."

Ich spürte, wie ich mich in Zeitlupe umdrehte und ihr mein Handy vor die Nase hielt. Veras Gesicht konnte ich ebenfalls nur schemenhaft wahrnehmen. Mir mussten scheinbar augenblicklich die Tränen in die Augen gestiegen sein.

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