Beste Freundin

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Ich war dem Taxifahrer mehr als dankbar, dass er die Fahrt über geschwiegen hatte. Zwar konnte ich immer wieder seinen Blick auf mir spüren, den er mir durch den Innenspiegel seines Taxis zuwarf, gesagt hatte er aber glücklicherweise nichts. Ich wäre ohnehin nicht in der Lage gewesen ihm zu antworten. Trotzdem war ich glücklich, dass er mich bis zur Haustüre begleitet hatte. Meine Knie waren mehr als weich gewesen und ich war froh, dass ich mich bei ihm unterhaken konnte. Ich entlohnte ihn mit einem fürstlichen Trinkgeld, einerseits weil er es verdienst hatte, andererseits weil ich keinen Nerv dazu hatte, noch länger von einem anderen Menschen umgeben zu sein, egal wie freundlich er sein mochte. Selbst wenn es nur die Zeit war, die die Herausgabe des Wechselgeldes beanspruchte.
Ich wollte nur noch alleine sein, alleine mit meinen Gedanken und meinem desolaten Körper.

Ich hatte dem Taxifahrer geistesabwesend die Adresse von meiner Wohnung genannt, obwohl ich ja mehr oder weniger bei Vera wohnte. Zum Glück hatte ich den Hausschlüssel in der Handtasche. Ich schleppte mich die drei Stockwerke hoch und war glücklich, als die Wohnungstüre hinter mir ins Schloss fiel. Obwohl ich froh war, dass es in der Wohnung so still war, dass man den Staub auf den Boden fallen hören könnte, merkte ich, wie in mir Beklemmung aufstieg. Ich konnte mich aber nicht zusätzlich mit diesem Gefühl auseinandersetzen. Alle anderen Emotionen, die in mir wie ein Tornado wüteten, waren schon mehr als genug. Ich ließ die Handtasche neben mich fallen und kickte die Schuhe von den Füßen. Während ich meine Jacke öffnete, fiel mein Blick in den großen Spiegel mir gegenüber. Zu sagen, dass ich "scheiße" aussah, wäre eine Untertreibung. Ich fragte mich, was aus der selbstbewussten und fröhlichen Frau Ende dreißig geworden war, die vor ein paar Tagen ebenfalls in diesen Spiegel geschaut hatte? Wie konnte sich eine Gefühlswelt innerhalb weniger Stunden nur so abrupt ändern? In mir tobten Angst und Schmerz und verbanden sich zu einem Ohnmachtsgefühl. Ich hatte das Gefühl, dass immer mehr Akteure zu diesem wirklich schlechten Theaterstück hinzukamen. Mit jedem Auftritt wurde die Handlung dramatischer. Ich fragte mich, aus wie vielen Akten dieses Stück bestehen würde und was am Ende übrig bleiben würde. Ich wusste, dass Catri alles aufklären könnte. Aber sie lag in fünf Kilometern Luftlinie mit schwersten Verletzungen im Koma und würde möglicherweise nie etwas dazu beitragen können, dass dieses Stück zu einem glücklichen Ende kommen würde.

Müde und völlig ausgelaugt schleppte ich meine Hülle zum Sofa. Ich hatte nicht mal mehr die Kraft dazu zu weinen. Es gelang einfach nicht. Hatte ich mir zuletzt oft gewünscht, die Tränen würden verschwinden, so sehnte ich sie in diesem Moment herbei. Ich ließ mich auf die weichen Polster fallen und starrte in Embrionalstellung auf die Wand gegenüber. Es gab so viele Fragen und ich hatte gehofft, dass ich im Kommissariat Antworten bekommen würde. Stattdessen hatten sich nur weitere Fragen aufgetan. Ich wusste, dass mein Körper und meine Seele diese Belastung nicht lange aushalten würden. War es nicht schon schlimm genug, dass der Mensch, den ich am meisten liebte und vertraute für mich nicht zugänglich war? Ich hätte sie jetzt so gebraucht. Andererseits schaffte ich es nicht mal, mich an ihr Bett zu setzen. Ich schämte mich dafür. Wäre ich an Catris Stelle, würde sie nicht von meiner Seite weichen. Vermutlich müsste man sie am Ende der Besuchszeit sogar mit der Security rausschmeißen lassen. Der Gedanke sorgte dafür, dass sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen schlich.

Ein nervtötendes Geräusch schallte durch die Wohnung. Ich riss erschrocken die Augen auf, offensichtlich war ich eingeschlafen. Etwas desorientiert hob ich meinen Kopf an, um den Ursprung des Lärms zu lokalisieren, doch das Geräusch war verschwunden. Als ich mich fragen wollte, ob ich nur geträumt hatte, ertönte wieder dieselbe Melodie, die ich in diesem Moment als meine Türklingel identifizierte. Stöhnend erhob ich mich vom Sofa und torkelte etwas benommen zur Gegensprechanlage im Flur.

„Ja?", fragte ich mit rauer Stimme.

„Gott sei Dank! Weißt du was ich mir für Sorgen gemacht habe? Mach bitte die Türe auf", rief eine aufgeregte Stimme.

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