„Wir wurden suspendiert. Bis auf Weiteres zumindest. Man ermittelt gegen Catri, aber was genau ihr vorgeworfen wird, sagt man uns natürlich nicht."
Ich hatte mein Handy auf Lautsprecher geschaltet und es vor mir auf die Küchentheke gelegt, damit Vera mithören konnte. Für einen Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Es war eine logische Konsequenz, die sich aus den Ereignissen der letzten Tage ergab. Ralf Brückner war Staatsanwalt und seine Tochter definitiv in Schwierigkeiten.
„Gibt es nicht einen Kollegen, den du fragen kannst? Du weißt doch sicher, wer die Ermittlungen leitet, oder nicht?" Meine Stimme zitterte.
„Ich will niemanden in Schwierigkeiten bringen, ich hoffe du verstehst das."
Ralf klang resigniert. Was auch immer Catri angestellt hatte, es war keine Kleinigkeit.
Nachdem ich Catris Eltern von der Durchsuchung sowie der anstehenden Vernehmung berichtet hatte, hatte unser Telefonat recht schnell geendet. Ich war ehrlich gesagt nicht böse darum gewesen. In den letzten Tagen hatte ich eine Mauer um mich und mein Herz gezogen und aktuell wusste ich nicht, wer es wert war, hereingelassen zu werden. Sicher, ich war Vera sehr dankbar für die Unterstützung gewesen. Trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, dass sie mich vollumfänglich verstand. Aber konnte sie das überhaupt? War dies nicht eine Ausnahmesituation, für uns alle? Auch Vera kannte und mochte Catri. Einst hatte Vera sie als erste vernünftige Frau in meinem Leben bezeichnet und Gott dafür gedankt, dass sie ausgerechnet bei uns ihren Artikel schreiben wollte. Nichts als ein Zufall, der uns zusammengeführt hatte.
Aber wie zufällig war das wirklich gewesen? Sicherlich gab es noch mehr queere Boutiquen in Berlin. Wie hatte Catri gerade uns gewählt? Oder waren wir die Erstbesten gewesen und sie war auf gut Glück bei uns hereingeschneit, ohne zu wissen, ob wir unser Okay geben? Hatte ich Catri je danach gefragt? Ich konnte mich nicht erinnern.
„Ach verdammt", fluchte ich.
Aus jedem Ansatz ergaben sich nur weitere Fragen und Wege, die ins Dunkle führten. Mir fehlten essentielle Informationen, um verstehen zu können, was hier passiert war. Mein Blick flog ein letztes Mal über die Mindmap, die Vera und ich erstellt hatten. Er blieb an Ekaterina Rostov hängen. Einen Moment ließ ich ihn verweilen, dann verließ ich das Büro, schnappte mir meine Jacke, Tasche und Schlüssel und verließ die Wohnung in Richtung Charité.
Morgen früh hatte der Kommissar gesagt, aber das war sehr unpräzise. Man hatte mich die ganze Nacht wachgehalten und meine Wohnung verwüstet. Der Mann konnte also kaum erwarten, dass ich geschniegelt und gebügelt um neun Uhr in seinem Kommissariat auftauchte. Er würde schon warten können und eigentlich müsste er dankbar sein für die Pause, die ich ihm gewährte, bevor er feststellen würde, dass ich ihm nicht helfen kann. Was auch immer er aus mir rausquetschen wollte, ich war die falsche Person. Das würde er schon noch verstehen. Außerdem wäre es mir lieber, wenn er mir endlich ein paar Antworten geben würde, anstatt sie bei mir zu suchen. Ich überlegte, ob es nicht doch sinnvoll wäre, bei Catris Chef vorbei zu schneien und ihm meine Fragen zu stellen. Aber nach einem Blick auf meine Armbanduhr verwarf ich den Gedanken wieder. Es war bereits zu spät, um Catri zu besuchen und zur Redaktion zu fahren. Die Charité lag in entgegengesetzter Richtung. Ich wollte Kommissar Brandt zwar schmoren lassen, aber eben nur bis exakt 11:59 Uhr. Alles andere würde keinen guten Eindruck machen und wenigstens den wollte ich mir bewahren, aber nicht ohne Seitenhieb. Das musste einfach sein.
Ich hing weiter meinen Gedanken nach, bis ich schließlich vor dem altbekannten Gebäude stand. In der letzten Woche war ich öfter hier gewesen, als in den letzten achtunddreißig Jahren. Ich bahnte mir meinen Weg bis zur Klingel neben der Glastüre mit der Aufschrift Intensivstation.
Es dauerte nicht lange und die Stimme von Schwester Melanie ertönte aus der Gegensprechanlage. Ich nannte meinen Namen und mein Anliegen und schon öffneten sich die Türen. Schwester Melanie trat dahinter hervor und begrüßte mich mit einem schiefgeratenen Lächeln.
„Möchten Sie einen Kaffee?"
„Ich weiß, ich sehe schrecklich aus. Ich hatte gehofft, dass das Make-Up meine Augenringe zumindest mildert. Den Kaffee nehme ich gerne an, gibt es denn was Neues?"
„Ich wollte Ihnen nicht zu Nahe treten, Entschuldigung.
Nein, leider nicht. Wir würden Sie aber auch sofort informieren, wenn dem so wäre.", sagte sie hastig.
„Es muss Ihnen nicht leidtun. Sie haben recht und es ist die Wahrheit. Wahrheit tut gut, wissen Sie?"
Melanie nickte nur und ich setzte meinen Weg alleine fort, vorbei an den offenen Schiebetüren, die den Blick auf die Fußenden von weiteren Patientenbetten freigaben. Ich bezweifelte, dass ich mich jemals an diesen Anblick gewöhnen könnte. Es gab hier zu viele Seelen, deren Körper gefangen waren. Eingehüllt in Verbände, nicht mehr in der Lage, sich selbst zu kontrollieren. Ich bewunderte Menschen wie Melanie, die die Nerven hatten sich diesen Körpern anzunehmen. Sie zu heilen und den Seelen ihre Heimat wiederzugeben. Ich fragte mich, ob Catris Seele noch hier war. Ob sie wusste, dass ich da war. Konnte sie mich fühlen? Meine Berührungen spüren? War sie böse, dass ich nicht öfter kam?
Ich stockte kurz, bevor ich in ihr Zimmer sah. Ihr Anblick zerstörte jedes Mal etwas in mir. Sie sollte hier nicht sein. Mir fiel die Patientenverfügung wieder ein, die ich Dr. berg gegeben hatte. Die Ereignisse überschlugen sich und drohten eindeutig mich mitzureißen. Ich atmete tief durch und betrat den Raum.
Catri lag heute seitlich mit dem Gesicht zur Tür. Viel erkannte man noch immer nicht von ihr. Die Blutergüsse verfärbten sich langsam, die Schwellungen schienen weniger zu werden. Catri wirkte seltsam fremd auf mich. Ich stand wie angewurzelt in ihrem Zimmer und schaffte es keinen Meter weiter. Meine Augen fixierten die junge Frau, die da vor mir im Bett lag. Ich hielt die Luft an, traute kaum meinen Augen. Es war mir nicht aufgefallen, weil ich sie in dieser Position noch nicht gesehen hatte. Zudem war ihr Hals von den Haaren und Verbänden verdeckt gewesen. Es begann sich alles zu drehen, doch ehe ich ohnmächtig werden konnte, stieg Wut in mir auf. Ich setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Immer näher zu der Stelle, die ich noch immer fixierte. Ich trat so nah heran, dass ich mir sicher sein konnte. Die Erkenntnis traf mich. Sie zog mir gänzlich die Füße unter dem Boden weg. Doch meine Mauern schafften es, mich zusammenzuhalten. Mit Tränen und einem Kloß im Hals, der drohte mir die Luft abzuschnüren, drehte ich mich und verließ schnellen Schrittes das Zimmer. Auf dem Flur begegnete mir Melanie, die den versprochenen Kaffee in der Hand hielt.
„Müssen Sie schon gehen?", fragte sie mich verwundert.
Ich stürmte an ihr vorbei, weg von der Station, raus aus der Charité. Was auch immer hier gespielt wurde, ich würde dem Ganzen heute ein Ende setzen. Jetzt und sofort würde ich mir Antworten holen.
DU LIEST GERADE
Bleib
RomanceWas passiert, wenn dein Leben vom einen auf den anderen Moment völlig aus den Fugen gerät? Der Antwort muss sich Margo Zander stellen. Die erfolgreiche Berliner Geschäftsfrau lebt seit fünf Jahren mit ihrer Lebensgefährtin Catri zusammen, bis ein sc...