Eleanor zog die Sonnenbrille von den Augen und für einen Moment fürchtete ich, dass mich mit aller Härte der Blick der Medusa versteinern würde.
Tatsächlich ließen mich ihre seltsam glänzenden Augen und dieses subtile Lächeln dahinschmelzen. Sie war immer schon stilsicher in ihrem Auftreten und entsprechend elegant sah sie aus in ihrem ärmellosen Etuikleid. Ich hatte kaum einen größeren Kontrast schaffen können in Hoodie und Jeans und mit klobigem Kopfhörer als Halsschmuck.
„Was ist los, Chelly? Du benimmst dich irgendwie eigenartig! Erst fährst du in aller Herrgottsfrüh zur Arbeit – und das am Tag nach Jamies Beerdigung und dann holst du dir diesen Trällerfink in dein Büro. Dad hat mich auch schon angerufen, weil er sich Sorgen macht."
Ich verbiss mir die Retourkutsche, dass ihr Benehmen mindestens genauso eigenartig war. Denn ich hätte sie anlügen müssen, weil sie recht hatte. Ich benahm mich eigenartig, weil ich ihr unter keinen Umständen erzählen wollte von diesem Möchtegern-Jamie. Verlegen starrte ich auf den Teller vor mir, auf dem immer noch unangerührt die Auster lag, die sie mir übriggelassen hatte.
„Dad hat erzählt, dir hat jemand Blumen ins Büro geschickt!?"
Ich schluckte trocken. Er hatte sie durch meine offenstehende Bürotür gesehen. Aber war er später auch reingegangen und hatte die Karte auf meinem Schreibtisch gelesen?
Und wenn schon, versuchte ich mich zu beruhigen, es stand kein Name drauf – zum Glück.
„Katerina hat gesagt, sie wären von Steven." Rachel verdrehte die Augen und lachte kurz auf. Dann lehnte sie sich zu mir vor. „Wieso schickt er dir gelbe Blumen? Ich meine, gelb, das steht doch eigentlich für eine platonische Freundschaft? Du willst mir doch nicht erzählen, dass er dir nicht an die Wäsche will!?"
In meinen Ohren rauschte es. Dass meine Schwester wie die Niagarafälle auf mich einredete, daran war ich gewöhnt und hatte es wie ein sphärisches Rauschen liebgewonnen – ein hörbarer Nachhall des Urknalls. Am Anfang war das Chaos, hieß es schon bei Hesiod. Und es war wichtig, sich zu vergegenwärtigen, wie chaotisch das Leben dahinrauschte.
Womit ich schlecht umgehen konnte, war allerdings, wenn sie mich urplötzlich einfach nur stumm ansah. Diese bedrängende Stille war Psychofolter.
Ich griff mir die letzte Auster, nahm mir mit einem kleinen Löffel etwas von der hausgemachten Mignonette Soße und beträufelte damit hochkonzentriert das glasig schimmernde Austernfleisch.
„Chelly?"
Ich wollte sie nicht belügen, verspürte aber auch keinerlei Verlangen, ihr vom wahren Absender des Blumengrußes zu erzählen. Stattdessen könnte ich sie darauf hinweisen, dass gelb genauso die Farbe der Eifersucht war. Denn ich wurde das Gefühl nicht los, dass ihr die Vorstellung missfiel, dass ich mit Steven Sex haben könnte.
Steven war definitiv ein vielversprechendes Ablenkungsmanöver, darum erwiderte ich: „Warum erzählst du mir nicht zuerst, was das gestern zwischen dir und Steven sollte?"
Sie lachte verbittert auf. „Kannst du dir das nicht denken?"
Mit der Austernschale vor meinem Mund schüttelte überfragt dem Kopf.
„Jamie könnte noch am Leben sein, wenn Steven nicht so ein verweichlichter Suffkopf wäre."
Jetzt verstand ich. Sie brauchte einen Sündenbock für Jamies Tod und hatte ihn in Steven gefunden. In ihren Augen glühte nackter Zorn. Und ich sollte froh sein, dass er nicht mich traf.
Armer Steven!
Beim Leichenschmaus hatte sie ihn zu einem Wetttrinken herausgefordert. Anfänglich hatte er sich noch gewehrt, doch weil Eleanor die Aufmerksamkeit der Trauergäste immer mehr auf sich zog, war er darauf eingegangen, in der irrigen Hoffnung, Ellas Furor damit zu besänftigen.
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Ich bin dein kleiner Tod
Mystery / ThrillerRachel (25) hat gerade ihre große Liebe Jamie (27) beerdigt. Doch kaum ist sie zu Hause, erhält sie eine Nachricht auf ihr Handy - von Jamie selbst. Zuerst hält sie es für einen technischen Fehler oder einen geschmacklosen Streich. Doch sie kann nic...