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Von der Drogerie aus waren es nur noch zwei Blocks bis zu Eleanors Wohnung in Hells Kitchen. Die befand sich in einem verwitterten Backstein-Mietshaus mit diesen typischen hohen, schmalen Fenstern und der obligatorischen Feuerleiter davor. Das Gebäude mochte fast hundert Jahre alt sein und wirkte trotz der fünf Geschosse klein im Vergleich zu den unweit entfernten Skyscrapern in Midtown.

Eleanor wohnte in der obersten Etage und natürlich hatte das Gebäude einen altersschwachen Fahrstuhl, der mal wieder außer Betrieb war. Schon auf halber Strecke kam ich außer Puste, während Eleanor das Treppensteigen nichts anhaben konnte.

Sie hatte die Wohnungstür für mich offenstehen lassen, als auch ich oben ankam. Die Wohnung war mir vertraut, doch es fühlte sich nach wie vor seltsam an, die Schwelle zu überschreiten, erst recht jetzt, wo Jamie hier nicht mehr lebte.

Meine Schwester hatte ihre Pumps im Flur abgestreift und liegenlassen und war im großen Wohnraum verschwunden. Ich schloss die Wohnungstür hinter mir und hörte ein wohlvertrautes Surren, das allerdings nicht hierhergehörte. Ich blickte den Korridor entlang. Alle Zimmertüren standen offen. Und dann sah ich ihn auch schon aus dem ehelichen Schlafzimmer herauskriechen: Sisyphos, der gelb-schwarz karierte Saugroboter der Marke Sweep Bee.

Ich stiefelte meiner Schwester hinterher und warf die Einkaufstüte auf den Tresen, welcher den Wohnbereich von der Pantryküche trennte. Dort werkelte Eleanor an der Kaffeemaschine herum.

Verwirrt fragte ich sie: „Wann hast du denn Sisyphos aus der Firma geholt?"

Sie sah mich fragend an, wobei ihr Blick auf meine Stiefel fiel. „Kannst du bitte deine Schuhe ausziehen! Und wen soll ich aus der Firma geholt haben?"

Ich verdrehte die Augen und begann damit, meine Stiefel abzustreifen, während ich erklärte: „Ich mein den Saugroboter!"

„Ach der." Sie seufzte traurig und löffelte Kaffeepulver in den Filter. „Den hat Jamie vor Monaten angeschafft. Er war regelrecht besessen von dem Teil, hat ständig daran herumgewerkelt. Du kennst ja seine Begeisterung für computergesteuerte Geräte."

Natürlich kannte ich die. Meinem Dad hatte Jamie ständig damit in den Ohren gelegen, wir müssten die Reglungstechnik unserer Klimaanlagen dringend modernisieren.

Ella lächelte wehmütig und schaltete die Kaffeemaschine an. „Ich frag mich, wieso er über fünf Jahre Jura studiert hat, wenn er mit dem Herzen immer woanders gewesen ist."

Wenn Eleanor wüsste, dass dies nicht nur sein Studienfach betraf, welches er seinem Vater zuliebe gewählt hatte. Jamie war mit dem Herzen immer woanders gewesen, weil ich ihn dazu gezwungen hatte.

Ich trug die Schuld daran. Und alles, was ich zu meiner Verteidigung vortragen konnte, war, dass ich damals viel zu unreif gewesen war, als ich ihn mit in meinen Abgrund zog.

Ich war nicht mal 14 gewesen und damit eigentlich noch zu jung für die Highschool. Daran wiederum war meine Schwester schuld.

Eleanor und ich waren schon seit frühesten Kindertagen so etwas wie Sisters in Crime. Als sie in die erste Klasse kam und die Grundlagen von Rechnen, Lesen und Schreiben beigebracht bekam, war ich gerade einmal viereinhalb Jahre alt. Sobald sie aus der Schule heimkam, spielte sie für mich die Lehrerin. Sie war eine begnadete Lehrerin und ich ihre begeisterte Schülerin. Und so kam es, dass, nachdem ich endlich auch eingeschult wurde, sich rasch herausstellte, dass ich viel weiter war als meine Altersgenossen. Also übersprang ich eine Klasse und verkürzte damit den Abstand zu meiner Schwester von zwei auf nur noch eine Jahrgangsstufe.

Dann kam das Jahr, in dem Eleanor zur Junior High wechselte, während ich in der Elementary School festsaß. Es war für uns beide ein unerträgliches Jahr gewesen. Aber danach hätte alles wieder gut werden können, doch nach der schmerzlichen Trennung reichte das uns beiden nicht mehr, zumal eine erneute Trennung bevorstand, sobald Eleanor auf die Highschool wechseln würde. Da meine Schulleistungen lange nicht so überragend waren, um eine weitere Jahrgangsstufe zu überspringen, stellte sich Ella beim Lernen einfach besonders dumm an. So auffallend dumm, bis unsere Eltern und die Lehrer sich nicht mehr anders zu helfen wussten und sie die Siebte wiederholen durfte. Und so besuchten meine Schwester und ich fortan dieselbe Klasse und wechselten zwei Jahre später gleichzeitig auf die Highschool. Meine Schwester war damals 15 und damit eine der Ältesten unter den Freshmen, während ich mit meinen gerade mal 13 ½ die Jüngste an der Schule war.

Und das wurde zu meinem Fluch, denn meine Mitschüler behandelten mich wie ein kleines Kind. Und es war nicht so, dass ich eine Hochbegabte gewesen wäre, um sie mit einem überragenden Intellekt beeindrucken zu können. Ich war bloß eine gelehrige Schülerin meiner Schwester gewesen, doch seitdem die mit mir in dieselbe Klasse ging, konnte sie mir keinen Wissensvorsprung mehr verschaffen. Außerdem fühlte ich mich durch ihre bemutternde Art nur noch mehr wie ein kleines Kind.

Und noch etwas hatte sich durch den Schulwechsel verändert. Auf der Highschool gab es für alle Schüler nur noch ein Thema: Sex.

Nur dass sie mich davon ausschlossen. Wenn sie darüber tuschelten und ich dazu kam, verstummten sie peinlich berührt oder wechselten scheinheilig das Gesprächsthema. Oder aber sie kicherten albern und lachten mich aus, weil sie meinten, dass ich noch zu klein war für Sex.

Darum war ich wild entschlossen, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Ich fühlte mich nämlich genauso erwachsen wie alle anderen an der Highschool auch. Ella hatte mich auf einen Jungen aufmerksam gemacht, für den sie vom ersten Schultag an schwärmte. Egal wie unzertrennlich meine Schwester und ich waren, waren wir längst nicht immer einer Meinung, doch was ihren Jungsgeschmack betraf, waren wir augenscheinlich auf derselben Wellenlänge – verhängnisvollerweise. Nicht, dass ich mich auch in ihn verknallt hätte, aber er war genau der Richtige für meinen Plan: Er war ein knappes Jahr älter als Eleanor, da sie aber eine Sitzenbleiberin war, war er bereits zwei Stufen über uns.

„Blurred Line" von Robin Thicke war damals der Hit des Sommers gewesen, der sich schon seit Wochen auf der Poleposition der Charts behaupten konnte. Und er sollte der Soundtrack meiner Mission werden: Wenn ich den Jungen, der schon nächstes Jahr die Abschlussklasse besuchen würde, rumkriegen könnte, müssten mich alle an der Schule endlich ernstnehmen!

♫You're an animal,
Baby, it's in your nature. (meow)
Just let me liberate you!
You don't need no papers.♫

Sechs Wochen nach meinem ersten Highschool-Tag machte ich im Geräteraum der Sporthalle heimlich mit ihm rum. Dass wir dabei beobachtet und gefilmt wurden, war nicht geplant gewesen. Doch während wir noch auf getrennten Wegen und viel zu spät dran zu unseren nächsten Unterrichtsstunden schlichen, infizierte das Kurzfilmchen bereits die Handys unserer Mitschülerinnen und Mitschüler.

Eigentlich hätte es nicht besser für mich laufen können, jeder an der Schule sollte es ruhig erfahren. Doch ich hatte nicht bedacht, wie Eleanor darauf reagieren würde, dass ich kein kleines Mädchen mehr war.

Die ganze Unterrichtsstunde saß sie versteinert neben mir, starrte stur nach vorne und verschwendete erst wieder ein Wort an mich, als das Pausenklingeln die Stunde beendet hatte. Und es war auch nicht mehr als ein einziges Wort gewesen, welches für viele Wochen das letzte Wort sein würde, das sie an mich richtete: „Hure!"

Damit ließ sie mich sitzen und verließ ohne mich das Klassenzimmer. Ich hatte meine Lektion gelernt, war eine gelehrige Schülerin meiner großen Schwester. Noch am selben Schultag machte ich Schluss mit dem Jungen und ging ihm fortan, so gut es ging, aus dem Weg. Trotzdem strafte mich Eleanor mit Schweigen und saß das restliche Schuljahr im Unterricht möglichst weit weg von mir neben anderen Leuten.

Es brauchte Wochen und viel Überzeugungsarbeit von mir, bis sie anfing, mir langsam zu verzeihen. Es war die mit Abstand allerschlimmste Zeit meines Lebens, schlimmer als die letzten zwei Wochen, sehr viel schlimmer.

Damit sie mir wieder verzieh, hatte ich so einiges unternommen, auf das ich rückblickend nicht sonderlich stolz war. Aber ich war einfach noch so jung und unerfahren gewesen und noch nie zuvor derart verzweifelt, dass die Grenzen zwischen richtig und falsch und zwischen erlaubt und verboten völlig verschwammen. Ich hatte mich gefragt – und fragte mich auch heute noch – wer darüber entschied, was gut und was böse war. Ich selbst? Oder ließ ich es zu, dass andere diese Entscheidung für mich trafen?

♫I hate these blurred lines!
I know you want it, I know you want it!
I know you want it, but you're a good girl! ♫

Ich bin dein kleiner TodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt