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Ich hatte schon eine Weile den Laptop aufgeklappt, da flatterte er auf einmal an mir vorbei. Ich jauchzte und er zwitscherte aufgeregt im Flug und flatterte ein wenig ungelenk im Zimmer herum. Das Glücksgefühl, das mich durchströmte, war unglaublich. Ob der kleine Vogel zum allerersten Mal in seinem Leben frei herumflog? Darüber konnte ich nur spekulieren, aber es war auch nicht wichtig. Hauptsache er genoss seine Freiheit.

Nach ein paar Runden landete er oben auf dem Aktenschrank und ruhte erst einmal aus.

Dann stürzte er sich wie ein unerschrockener Basejumper vom Aktenschrank und drehte weitere Runden durch mein Zimmer. Er war wie in einem Adrenalinrausch. Und ich war es auch. Und da verstand ich endlich, was Freiheit bedeutete. Freiheit bedeutete, die Grenzen, die andere einem gesetzt hatten, nicht hinzunehmen. Freiheit bedeutete, sich über die Grenzen der anderen hinwegzusetzen. Ich stand auf, um den Käfig von der Fensterbank rüber auf meinen Schreibtisch zu räumen und danach das Fenster zu öffnen. Ich würde Griffin keine Grenzen mehr setzen. Er sollte die Freiheit haben, sich seine Grenzen selbst zu setzen!

„Na los, raus mit dir!", forderte ich ihn auf. „Dreh mal eine Runde! Und dann entscheide, wohin du willst."

Griffin flatterte wild im Zimmer umher, landete dann im Geäst der Forsythie. Goldene Blüten regneten auf meine Schreibtischplatte. Doch er wollte nicht raus in die goldene Morgensonne fliegen, sondern piepste mich nur schüchtern an. Ich scheuchte ihn auf, er flatterte erschrocken auf, drehte eine Runde durchs Zimmer und kam wieder zurück.

Ich setzte mich wieder an meinen Schreibtisch, ohne das Fenster zu schließen. „Überleg nicht zu lange, Griffin! Sonst überleg ich's mir vielleicht nochmal."

Mir war klar, dass ich gerade etwas sehr Unüberlegtes tat, aber es fühlte sich in diesem Moment richtig an – und so gut.

Von Griffin kam allerdings wieder nur ein zaghaftes Piepsen. Sein kleiner Brustkorb hob und senkte sich in schneller Folge, schwer zu sagen, ob vor Aufregung oder Anstrengung oder, weil ihm wie mir vor Freude das Herz aus der Brust springen wollte.

Ich ließ ihm seine Bedenkzeit und wendete mich wieder meinem Laptop zu, um meine Recherche fortzusetzen, wie ich diese KI wieder vom Netz nehmen konnte. Ich war ganz in Gedanken, als plötzlich meine Bürotür aufgerissen wurde. Griffin erschrak mindestens so sehr wie ich und flattert wild im Zimmer umher. Mein Dad stand im Türrahmen und sah mich entgeistert an. „Was machst du hier?"

Seine Augen verfolgten den gelben Vogel, der durchs Zimmer stob wie ein aus der Flasche entwichener Geist. Dann fiel sein Blick aufs Fenster und er rannte darauf zu. Damit wiederum erschreckte er Griffin derart, dass der die Chance nutzte und aus dem Zimmer flüchtete – jedoch nicht durchs Fenster, dieser dumme Vogel.

Am Empfang hörte ich Katerina kreischen. Mein Dad schlug das Fenster zu, angelte sich den leeren Käfig und nahm die Verfolgung auf.

Ich folgte ihm, auch wenn ich die ganze Aufregung völlig unangebracht fand. Griffin war kein Schwerverbrecher, der aus Sing Sing türmen wollte.

Katerina stand kerzengerade hinterm Empfangstresen, die Augen weit aufgerissen und reckte wie ein knorriger Baum den Arm zum Westflügel. Dad eilte schon in die gewiesene Richtung. „Er ist hier", hörte ich Eleanor rufen, die ihren Kopf aus Jamies Zimmer steckte.

Dort saß Griffin auf Jamies Bücherregal und zwitscherte aufgeregt und so fröhlich, wie ich ihn vielleicht noch nie gehört hatte. „Der arme, kleine Vogel", klagte Katerina mitleidig. „Was hast du dir dabei gedacht?", zischte mich meine Schwester an. Und mein Dad forderte mit seiner Bassstimme: „Tür zu und Ruhe jetzt!"

Katerina schloss mit übertriebener Vorsicht die Tür und meine Schwester beobachtete mit angehaltenem Atem, wie unser Vater versuchte, den kleinen Vogel in den kleinen Käfig zu locken. Und ich seufzte nur genervt. Das wars mit Griffins Chance auf Freiheit gewesen. Aber ich würde mich nicht mehr so leicht einfangen lassen, schwor ich mir in diesem Moment.

Ich bin dein kleiner TodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt