Gegen sieben Uhr kam ich von der Arbeit daheim an, ging duschen und zog meinen schwarzen Lieblingshoodie und eine bequeme Yogahose über. Hätte Jamie Augen und würde er sich an unser letztes Mal erinnern, würde er mein Outfit wiedererkennen.
Steven hatte ich das Abendessen abgesagt unter dem Vorwand, Überstunden schieben zu müssen. Aber ich hatte ihm in Aussicht gestellt, dass ich mich später vielleicht nochmal bei ihm melden würde. Warum ich mir diese Option offenhielt? Ich liebte Jamie und ich freute mich auf den Abend, aber ich bezweifelte, dass unser Date in ein nachtfüllendes Programm ausarten würde. Und Kondome hatten nun mal genauso wie Frischmilch ein aufgedrucktes Verfallsdatum.
Um kurz nach halb acht klingelte der Pizzabote und lieferte mir eine riesengroße, köstlich duftende Pizza, dazu eine Flasche italienischen Rotwein und ein Gläschen Zabaglione als Nachtisch. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, fragte mich aber gleichzeitig, wie ich das alles alleine verzehren sollte.
Der Kurierfahrer war gerade im Fahrstuhl verschwunden, da klingelte mein Handy. Ich stellte Jamie auf Lautsprecher, legte das Smartphone auf den Sofatisch, schaltete den Fernseher ein und klappte den Pizzakarton auf. Er hatte nicht vergessen, wie ich meine Pizza am liebsten mochte: Teuflisch scharf! Der Pizzaboden war dick belegt mit roter Paprika, grüner Peperoni und rosanen Zwiebelringen. Darüber zerlief eine klebrige Schicht Gorgonzolakäse.
Der Duft verführte meine Nase und trieb mir das Wasser in den Mund. Ich angelte mir ein Viertelstück, klappte es zusammen und biss hinein. Pizzaessen war so hemmungslos unkompliziert. Genüsslich kauend schraubte ich die Flasche auf, damit der Wein atmen konnte. Dann leckte ich mir die Finger ab und holte ein Glas aus dem Küchenschrank.
Der Fernseher war bereits eingeschaltet. Aus alten Tagen war Jamies Streaming-Account noch aktiv und er konnte ferngesteuert den Film starten, den er für mich ausgesucht hatte. Es fühlte sich fast so an wie einer unseren früheren Fernsehabende, zu denen er sich gelegentlich hergeschlichen hatte.
Der Film begann damit, dass Audrey Hepburn die Schaufensterauslage von Tiffany & Co. in der Fifth Avenue betrachtete. Sie trug ein schwarzes Abendkleid von Givenchy und eine große, dunkle Sonnenbrille, was mich augenblicklich an mein Mittagessen mit meiner Schwester denken ließ.
Der Morgen dämmerte, aber die Fifth Avenue war noch menschenleer. Audrey hatte augenscheinlich die Nacht durchgefeiert und aß nun ein Croissant, trank dazu einen Kaffee-to-go. Und ich kaute genüsslich auf meiner Pizza rum, während vor meinem Fenster der Abend dunkelte.
Jamies Wahl überraschte mich, denn der Film war uralt. 1961 war meine Grandma noch eine Teenagerin. Durchaus vorstellbar, dass sie den Film im Kino gesehen hatte. Ob Grandpa dabei gewesen war? Ob sich die beiden in die hinterste Reihe verzogen hatten, um heimlich im Dunkeln rumzuknutschen, während vorne auf der Leinwand „Frühstück bei Tiffany" lief? Ich sehnte mir jemanden zu mir auf die Couch, mit dem ich auch rummachen konnte.
Audrey trug im Film den wunderschönen Namen Holly Golightly und wohnte zusammen mit einem Kater ohne Namen in einem Mietshaus in der Eastside. Ihr exzessives Partyleben finanzierte sie als Escortgirl, indem sie von ihren wechselnden Abendbegleitungen 50 Dollar „für die Toilette" nahm. Außerdem ließ sie sich von einem windigen Anwalt dafür bezahlen, dass sie jeden Donnerstag einen Gangsterboss in Sing Sing besuchte, mit ihm plauderte und sich von ihm den „Wetterbericht" geben ließ.
Als der junge Paul Varjak in die Wohnung über ihr einzog, freundeten sich die beiden gleich an. Die Miete für Pauls Wohnung wurde von einer verheirateten Frau bezahlt, die für gelegentliche Bettgeschichten vorbeischaute. Als erfolgloser Schriftsteller, ließ er sich genauso wie Holly aushalten.
Paul verliebte sich rasch in die schillernde Holly, doch die wollte von Liebe nichts wissen, weil sie auf der Suche nach einem Millionär zum Heiraten war. Ihr Nachbar war für sie bloß ein Ersatz für ihren Bruder Fred, der beim Militär war und den sie sehr vermisste. Darum nannte sie Paul fortan nur noch Fred.
DU LIEST GERADE
Ich bin dein kleiner Tod
Mystery / ThrillerRachel (25) hat gerade ihre große Liebe Jamie (27) beerdigt. Doch kaum ist sie zu Hause, erhält sie eine Nachricht auf ihr Handy - von Jamie selbst. Zuerst hält sie es für einen technischen Fehler oder einen geschmacklosen Streich. Doch sie kann nic...