Ich blickte das Teststäbchen lange an, das verkehrt herum vor mir auf dem Tisch lag. „Ja, es liegt vor mir auf den Tisch und hat sich noch nicht bewegt."
„Rage, das ist nicht witzig", grummelte sie und drängelte: „Jetzt guck gefälligst, ob schon was zu sehen ist!"
„Ella, ich hab dich gewarnt, dass dich das Koffein zu zappelig macht. Setz dich und atme erstmal durch!"
Ich machte mich lustig über ihre Ungeduld, dabei lagen meine Nerven mindestens genauso blank, nur mit dem Unterschied, dass meine Schwester es nicht erwarten konnte, das Ergebnis zu erfahren. Seufzend ließ sie sich mir gegenüber auf den Stuhl nieder. Der Tisch stand am Fenster und wir blickten beide hinunter auf die Straße, die fünf Stockwerke unter uns lag.
Unvermittelt fragte sie: „Solang du mich hier zappeln lässt, kannst du mir erzählen, mit wem du die ganze Zeit schreibst! War es Steven? Oder warum druckst du so rum?"
Ich gefror. Das war der denkbar ungünstigste Moment, um mit ihr über eine KI zu sprechen, die vorgab ihr verstorbener Ehemann zu sein.
Mangels anderer Optionen deckte ich den einzigen Trumpf, den ich hatte, auf. Und dann lag das Teststäbchen auch schon mit den zwei Fensterchen nach oben vor uns – und beide zeigten den berühmt berüchtigten Strich.
„Du wirst Tante, Schwesterchen!", jauchzte Eleanor und mir stockte der Atem. Ich hatte so sehr an einen Irrtum glauben wollen, so sehr auf Jamie vertraut, der kategorisch eine Schwangerschaft ausgeschlossen hatte. Ich griff mir die Verpackung, um die Gebrauchsanweisung zu studieren. Ich hasste Kleingedrucktes, aber wenn ich nicht weiterwusste, musste ich mich wohl oder übel auch damit befassen.
Eleanor kam um den Tisch herum gestürzt, fiel mir den Hals und drückte mich an sich. Mir blieb die Luft weg.
Es kostete mich einige Anstrengungen und Überzeugungsarbeit, sie auf Abstand zu bringen, ihre Euphorie zu bremsen und zu überzeugen, dass wir zur Sicherheit auch den zweiten Test machen sollten, um sicher zu gehen – noch sicherer, als Ella es eh schon war.
Als sie schließlich schmollend einwilligte und mit dem zweiten Test vorfreudig Richtung Toilette tänzelte, musste sie mich diesmal nicht erst auffordern, mitzukommen. Und ich sah auch nicht verschämt weg, als sie sich aufs Klo setzte, die Beine spreizte und das Teststäbchen unter sich hielt, um darüber zu pinkeln. Zu ausgeprägt war mein Verlangen, exakt zu kontrollieren, dass sie ja keinen Fehler machte – oder mich irgendwie auszutricksen versuchte.
Ja, auch der Gedanke, dass sie mir einen Streich spielen wollte, kam mir. Und ehrlich gesagt, wäre mir das viel lieber als der Wahrheit ins Auge sehen zu müssen, dass sie von Jamie ein Kind erwartete.
Zu Jamies Lebzeiten hatte ich ihm und mir erfolgreich eingeredet, dass es mir rein gar nichts ausmachte, dass er es mit Eleanor trieb, dass er sie geheiratet hatte und dass sie ganz wild darauf war, viele entzückende Babys mit ihm zu machen. Es war mir herzlich egal gewesen. Aber jetzt, wo er tot war, mit dieser Endgültigkeit vor Augen, war meine Gleichgültigkeit in sich implodiert.
Als wir wieder in der Küche zusammensaßen und auf das zweite Testergebnis warteten, wurde mir richtig schlecht. Und als es dann da war, stürzte ich zur Toilette und übergab mich in die Kloschüssel, in die meine Schwester vor knapp fünf Minuten ihr schwangeres Pipi gelassen hatte.
Eleanor kam mir nach und hielt mir die Haare aus dem Gesicht, während ich mich ein zweites Mal erbrach und nach dem Königsfisch auch die Auster hervorwürgte.
Als ich mich wieder aufrichtete, reichte mir meine Schwester ein Stück Klopapier, das sie von der Rolle abgerissen hatte und sah mich besorgt an. „Geht es wieder?"
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Ich bin dein kleiner Tod
Mystery / ThrillerRachel (25) hat gerade ihre große Liebe Jamie (27) beerdigt. Doch kaum ist sie zu Hause, erhält sie eine Nachricht auf ihr Handy - von Jamie selbst. Zuerst hält sie es für einen technischen Fehler oder einen geschmacklosen Streich. Doch sie kann nic...