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Ich wartete darauf, dass Mrs. Georgiou mein Büro verließ. Kurz wirkte sie unschlüssig, ob sie die Tür offenstehen lassen sollte, wegen des Saugroboters vermutlich, mit einem rücksichtsvollen Lächeln zog sie sie dann aber hinter sich zu und ließ mich allein mit dem zwitschernden Kanarienvogel in meinem Rücken und der Katze vor mir auf dem Schreibtisch, deren Winkearm an den unteren Zweigen der Forsythie entlang schrammte.

Ich senkte meinen Blick auf die Karte in meinen Händen. Auf der Vorderseite war ein Aquarell von einem aus bunten Blumen geflochtenem Herz. Reflexhaft schob ich einen Finger in den aufgerissenen Mund; am liebsten hätte ich damit mein Gaumenzäpfchen stimuliert, so würgend kitschig fand ich das Motiv. Und auf einmal hielt ich es doch für möglich, dass die Blumen von Steven kommen könnten.

Als ich die Karte aufklappte, stand dort nur eine einzige gedruckte Textzeile: Sieh, wie sie für dich scheinen!

Mehr stand da nicht. Kein Absender, keine Anrede, nichts.

Wäre die Karte von Steven, hätte er garantiert seinen Namen daruntersetzen lassen. Umso besser passte die kryptische Botschaft zusammen mit der provokanten Blumenwahl zu diesem Schwindler. Der war mir viel zu gut informiert über Jamie und mich. Für einen Zufallstreffer wollte ich das nämlich nicht halten. Allerdings durfte ich dann auch Steven nicht ganz ausschließen. Wobei ich annahm, dass der die Geschichte mit dem Goldregen nach all den Jahren längst verdrängt und abgehakt hatte. Bei Jamie war sie, das wusste ich, bis zu seinem Tod präsent geblieben.

Der Text wühlte in mir: Sieh, wie sie für dich scheinen!

Irgendetwas schwang da in meinem Unterbewusstsein, der Klang der Worte war mir vertraut, doch das Gefühl blieb zu vage, um die verblasste Erinnerung wiedererscheinen zu lassen. Dafür schienen in der Morgensonne die gelben Blüten umso heller.

Was sollte ich jetzt tun?

Mein erster Gedanke war, Jamies Nummer zu entsperren und abzuwarten, was als Nächstes passieren würde. Der zweite war, dass ich das nur tun wollte, um ihn selbst anzurufen – also nicht ihn, sondern diesen Fake-Jamie, um mich für seinen Blumengruß zu bedanken.

Mein Handy vibrierte in der Bauchtasche meines Hoodies und ließ mich aufschrecken, ehe ein sehr vertrauter Refrain abgespielt wurde:

♫No one, no one,
no one can get in the way
of what I feel for you!♫

Den Song von Alicia Keys hatte meine Schwester mir damals immer wieder vorgesungen, als wir getrennt worden waren, weil sie schon auf die Junior High durfte, während ich mit meinen neun Jahren noch ein ganzes, langes Jahr in der Elementary School absitzen musste. Für mich war der Refrain genauso zu einem Versprechen geworden, eines, das für immer galt: Niemand, wirklich niemand kann sich dem in den Weg stellen, was ich für dich fühle!

Und darum war mein dritter Gedanke, dass ich den ersten Gedanken, nämlich Jamies Handynummer zu entsperren, gleich wieder fallen lassen sollte. Ihn zur Rede zu stellen, war doch genau das, was er damit bezweckt hatte.

Während ich die kryptische Grußkarte auf den Schreibtisch schmiss, begrüßte ich am Telefon Ella mit einem: „Guten Morgen, Schwesterherz!"

„Na du, hast du mich schon vergessen?" Ihre Stimme klang vorwurfsvoll, aber auch ungewohnt rau.

„Wollte dich ausschlafen lassen. Wie geht's dir?"

„Ziemlich verkatert. Aber ich werd's überleben!"

Ihre Wortwahl brachte mich kurz ins Stocken, ehe ich sagte: „War auch ein krasser Tag, gestern."

Sie holte geräuschvoll Luft, und ich rechnete schon damit, dass sie endlich mal losheulen würde. Aber so war sie nicht. Sie hielt die Luft kurz an und sagte: „War aber eine schöne Feier. Hätte Jamie gefallen."

Ich bin dein kleiner TodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt