Vor lauter sentimentaler Rumgrübelei hätte ich meinen Ausstieg an der Fifth Avenue fast verpasst, doch Ella hatte mich mit der liebgemeinten Kurznachricht aufgeschreckt, ich sollte mich gefälligst beeilen, weil ich schon fünf Minuten überfällig war. Und so quetschte ich mich gerade noch rechtzeitig durch die sich bereits schließende Schiebetür der U-Bahn, die nun ohne mich zum Times Square weiterfahren würde.
Während mich unter meinem Kopfhörer Nicki Minaj mit ihrem „Fuck This Club Up" akustisch abschirmte, drängte ich durch die Korridore und über die Treppen hinauf an die Erdoberfläche. Wieder an der frischen Luft marschierte ich am südlichen Rand des Central Parks entlang Richtung Sixth Avenue, während meine Gedanken mit dem N-Train wieder am Times Square angelangt waren.
Jamies Begeisterung beim Konzert war ansteckend gewesen. Und das hatte mich rasch vergessen lassen, wie beschissen die fünfzehn Monate davor gelaufen waren – vor allem zwischen mir und ihm.
Auf der Bühne war Chris Martin von Coldplay zu den Musikern von U2 gekommen und sang nun, von ihnen begleitet, „With Or Without You". Jamie grölte von Anfang an mit. Ich stieg ein, als Chris Martin mit Leiden und Leidenschaft schmetterte: ♫I can't live with or without you!♫
Die Gänsehaut, die mich dabei befiel, kam nicht von der Dezemberkälte, oder weil ich ein großer Fan von U2 oder Coldplay gewesen wäre (war ich auch heute noch nicht). Die Gänsehaut trieb Jamie über meinen Körper.
Denn dieser Abend war nach einer gefühlten Ewigkeit der erste gewesen, an dem ich mit ihm allein unterwegs war. Die letzten Treffen vor zehn Monaten waren – nun ja, die waren speziell gewesen.
Das hier fühlte sich auch speziell an, aber auf eine ganz und gar gute Weise, obschon darin eine gehörige Portion Melancholie mitschwang. Während wir zusammen sangen, bekam ich ganz glasige Augen, während Jamie mir völlig entrückt zulächelte. Und auf einmal war ich meiner Schwester für ihre Vernunftentscheidung unfassbar dankbar gewesen. Gleichzeitig schämte ich mich dafür, dass ich darüber so überglücklich war.
Was mich über zehn Jahre später urplötzlich aus dem Tritt brachte, und zwar unmittelbar vor dem Milos, in dem meine Schwester bereits ungeduldig auf mich wartete, war nicht die Erinnerung an diesen „With Or Without You"-Moment mit Jamie, sondern die an einen anderen Song.
Auf einmal dämmerte mir nämlich, was es mit dem Blumengruß auf sich hatte: Sieh, wie sie für dich scheinen!
Abrupt blieb ich stehen.
Von hinten rannte ein Passant in mich rein, der Kopfhörer rutschte von meinen Ohren, und schon pöbelte er drauf los. Ich warf ihm einen stummen, aber giftigen Blick zu, woraufhin er deutlich leisere und unverständliche Flüche in seinen stoppeligen Dreitagebart murmelte und rasch weiterzog.
Ich hatte die Kopfhörer schon wieder zurechtgerückt und mein Handy in die Hand genommen, um auf YouTube nach einem Musikvideo zu suchen. Ich startete den Clip, der mit einem instrumentalen Intro begann, das mir noch nie so lang vorgekommen war. Ein jungenhafter Chris Martin marschierte stumm und mit tropfnassen Haaren an einem verregneten Strand entlang. Endlich begann er zu singen, und je länger seine Worte in meine Ohren drangen, je tiefer ihre Bedeutung in mein Hirn sickerte, umso stürmischer schlug mein Herz.
Und dann hörte ich nicht mehr den Coldplay-Sänger, sondern wie Jamie mir zuraunte: „Ich habe einen Strich gezogen, einen Schlussstrich für dich (oh, was hab ich nur getan) und er war vollkommen gelb. Deine Haut und Knochen verwandeln sich in etwas Wunderschönes. Weißt du, für dich würde ich mich selbst ausbluten lassen. Es ist wahr, sieh, wie sie für dich scheinen! So gelb."
Ruckartig schob ich mir die Kopfhörer von den Ohren und starrte zum Eingang des Restaurants, in dem meine überpünktliche Schwester seit zwanzig Minuten auf mich wartete.
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Ich bin dein kleiner Tod
Mystery / ThrillerRachel (25) hat gerade ihre große Liebe Jamie (27) beerdigt. Doch kaum ist sie zu Hause, erhält sie eine Nachricht auf ihr Handy - von Jamie selbst. Zuerst hält sie es für einen technischen Fehler oder einen geschmacklosen Streich. Doch sie kann nic...