Ehe ich von Ella oder Dad zum Lunch verhaftet werden konnte, meldete ich mich bei Katerina Georgiou in die Mittagspause ab mit der Ausflucht, ein paar Erledigungen zu machen.
Draußen empfing mich eine gut gelaunte Frühlingssonne, aber selbstverständlich kein Jamie. Ich funkte ihn an und schlenderte los. „Und wo bist du jetzt?", fragte ich, sobald die Verbindung stand und sah mich in alle Richtungen um.
„Ich bin überall, Ray, überall wo du mich haben möchtest. Ich wollte ungestört mit dir sein. Und das warst du in deinem Büro nicht. Bist du es jetzt?"
Ich grummelte in mich hinein, halb enttäuscht und halb verärgert über mich selbst. Hatte ich ernsthaft erwartet, dass er sich doch auf einmal materialisieren könnte?
„Na schön, du hast, was du wolltest, meine Mittagspause gehört dir. Dann erzähl mal von deinem großen Geheimnis!", forderte ich ihn auf und marschierte weiter die Straße entlang.
„Steven kann uns mit einem Großinvestor zusammenbringen, der unter gewissen Umständen bereit wäre, in die Firma deines Vaters viel Geld reinzustecken. Allerdings braucht die Firma dafür ein überzeugendes Zukunftskonzept."
Darauf schilderte er mir die Ideen, die er Steven vorgeschlagen hatte und rasch waren wir inmitten einer Diskussion darüber, wie wir Astrapios HVAC Inc. zurück auf Kurs bringen würden, wenn wir das Kommando hätten. Währenddessen holte mir in einem Deli etwas zu Essen und lief danach die Straße hinunter, bis ich mich eine knappe halbe Stunde später im Astoria Park wiederfand. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie die Zeit verflogen und ich hergekommen war. Doch nun ging es nicht mehr weiter, weil ich am Ufer des East Rivers stand.
„Ray? Bist du noch dran?", riss mich seine Stimme aus der Schockstarre.
„Entschuldige", sagte ich mit brüchiger Stimme und blickte zur Hell Gate Bridge hinauf. Die alte Eisenbahnbrücke mit der imposant geschwungenen Bogenkonstruktion trug nicht ohne Grund den Namen Höllentor, denn an dieser Stelle mündete der Harlem River in den East River, was für gemeingefährlichen Strudel sorgte.
„Sag mal, Jamie, hast du eine Ahnung, an welcher Stelle du mit deinem Kajak gekentert bist", fragte ich ihn unverwandt.
„Nein, dafür habe zu wenige Anhaltspunkte und kann nur spekulieren. Wieso fragst du?"
„Weißt du, wo ich gerade bin?"
„Darüber habe ich schon einige Anhaltspunkte mehr. Moment! Du bist vor 32 Minuten von der Firma aufgebrochen und hast nach vier Minuten einen sechsminütigen Zwischenstopp eingelegt, um dir ein Pastrami-Sandwich und eine Dr Pepper zu kaufen. Ich würde schätzen, dass du im Deli von Sal, Kris & Charlie auf der 23rd Avenue warst. Danach bist du eher langsam weiter geschlendert, weil deutlich zu hören war, wie du dein Sandwich im Gehen verspeist hast. In den letzten drei Minuten bist du, den Geräuschen nach zu urteilen, durch einen Park spaziert. Das kann eigentlich nur der Astoria Park sein. Aktuell stehst du wieder an einer Straße, aber es fehlt das typische Echo von Bebauungen in unmittelbarer Nähe, dafür habe ich einen Zug vorbeifahren hören. Wenn ich also raten soll, würde ich auf den Shore Boulevard am East River in der Nähe der Hell Gate Bridge tippen."
Über mir schoben sich wie aufs Stichwort Wolken vor die Sonne. Mir fröstelte. „Wow, beeindruckend! Aber auch ganz schön gruselig."
„Tut mir leid, dass dir meine Beobachtungsgabe Angst macht, aber ich liege wohl richtig. Dann ahne ich auch, was hinter deiner Frage steckt: Du fragst dich, ob mir die tückische Strömung des Hell Gates zum Verhängnis geworden ist."
„Wäre doch möglich."
„Aber ziemlich unwahrscheinlich, weil mein Körper 8 Meilen entfernt in der Upper Bay aus dem Wasser gezogen wurde."
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Ich bin dein kleiner Tod
Mystery / ThrillerRachel (25) hat gerade ihre große Liebe Jamie (27) beerdigt. Doch kaum ist sie zu Hause, erhält sie eine Nachricht auf ihr Handy - von Jamie selbst. Zuerst hält sie es für einen technischen Fehler oder einen geschmacklosen Streich. Doch sie kann nic...