Als ich Jamies Büro in zögerlich kleinen Schritten betrat, lag es noch im Dämmerlicht. Die Sonne kam erst am Spätnachmittag hier herum. Den Raum zu betreten, fühlte sich sonderbar an. Seit Jamies Tod war ich nicht mehr hier gewesen. Wozu auch?
Mittlerweile wusste ich, wozu ich längst hätte herkommen sollen – nein, müssen! Ich blickte über Jamies Schreibtisch hinweg und ging zögerlich auf den Käfig zu, der auf dem Fensterbrett stand. Abgesehen von dem Surren, das aus dem Nachbarbüro kam und dem unablässigen Raunen, das New Yorks Straßenverkehr ausatmete, war es hier drinnen still – beängstigend still.
Ich entdeckte das dottergelbe und kopflose Federknäuel auf der unteren Stange. Erstaunlich genug, dass ein Vogel sich selbst im Tiefschlaf daran festklammerte, aber konnte er sich auch noch im Tod daran festhalten - wenn er bereits verhungert und verdurstet war?
Ich hörte Geräusche hinter mir und dann die besorgte Stimme von Mrs. Georgiou, die mir nachgerannt war: „Rachel, was ist denn los?"
Ich beachtete sie nicht, sondern steuerte mit stockender Atmung auf den Käfig zu. Hatte sich der kleine Kanarienvogel gerade bewegt? Da! Wie aus einem Schneckenhaus kam Griffins Köpfchen aus dem aufgeplusterten Gefieder.
„Zeus sei Dank, er lebt", stieß ich die angehaltene Luft aus. Und im Stillen dankte ich auch Hades dafür, dass er den Piepmatz noch nicht zu sich geholt hatte.
„Ja natürlich, Kindchen. Hast du etwa gedacht, ich vergess unseren kleinen Freund hier? Ich füttere ihn jeden Morgen als erstes, sobald ich reinkomme. Und ich sehe immer nochmal nach ihm, ehe ich abends gehe. Und auch dein Vater schaut oft bei ihm rein. Du brauchst dir also keine Sorgen um unseren kleinen Freund machen."
Ich drehte mich zu Katerina um und Tränen stiegen mir in die Augenwinkel – Tränen der Erleichterung, dass Griffin lebte, und der Wut auf mich selbst. Alle hatten an Griffin gedacht und sich um ihn gesorgt, alle, nur ich nicht.
Mit einer trotzigen und hastigen Bewegung wischte ich mir die Tränen weg. „Ich danke Ihnen, Mrs. Georgiou! Was würden wir nur ohne Sie machen?!"
„Ach Kindchen, das ist doch selbstverständlich."
Der Kanarienvogel gab ein zaghaftes Zwitschern von sich und zauberte mir damit ein Lächeln ins Gesicht. Katerina spiegelte es mit ihren grau-grünen Augen derart warmherzig, dass ich auflachen musste. Wie albern! Und dann plätscherte mir das Wasser nur so aus den Augen, während ich unkontrolliert weiterlachte.
Katerina stürzte zu mir, schloss mich fest in ihre Arme und augenblicklich war ich wieder ein kleines, verirrtes Würmchen in diesem viel zu großen Labyrinth, das sie Big Apple nannten.
„Ach Kindchen, du brichst mir das Herz. Deine ganze Familie bricht mir das Herz. Ihr alle leidet so schrecklich unter dem Verlust. Dein Vater tigert oft minutenlang hier durchs Zimmer, als würde er erwarten, dass James jeden Moment zur Arbeit erscheinen würde. Er hatte so große Hoffnungen in den Jungen gesetzt."
Während der Kanarienvogel immer ausgelassener sang, redete und redete Katerina trostspendend auf mich ein und drückte mich liebevoll an ihren Busen. Und ich wollte nur noch raus aus ihrer Umarmung und weg von hier. Doch sie ließ mich nicht. Und obwohl ich mich wehrte, hielt sie mich fest – weich und nachgiebig, aber ohne Chance, ihr zu entkommen.
Ich gab mich erst geschlagen, als mir bewusstwurde, dass Weglaufen nirgendwohin führte - nirgendwohin.
Ich hatte genug davon, ziellos umherzuirren, nur weil ich nicht sein wollte, wo ich gerade war. Und ich erkannte, dass das, was mich in Jamies Zimmer getrieben hatte, kein Fluchtversuch gewesen war. Ich war aus gutem Grund hier! Und darum blieb ich, während Griffin für uns sang. Und schon atmete ich ruhiger und die Tränen flossen langsamer, bis sie ganz versiegten und Katerina mich freigab. Ich dankte ihr mit einem Lächeln.

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Ich bin dein kleiner Tod
Misterio / SuspensoRachel (25) hat gerade ihre große Liebe Jamie (27) beerdigt. Doch kaum ist sie zu Hause, erhält sie eine Nachricht auf ihr Handy - von Jamie selbst. Zuerst hält sie es für einen technischen Fehler oder einen geschmacklosen Streich. Doch sie kann nic...