Kapitel 20

74 9 61
                                    


„Ich vermisse dich jetzt schon", flüsterte ich Timothy wehmütig ins Ohr, während wir uns fest umarmten. Wir standen in Hamburg vor dem Bahnhof. Das Auto von Timothys Dad parkte am Straßenrand. Grace und Andrew waren schon eingestiegen.

„Wir können uns ja morgen wieder sehen", munterte Timothy mich auf.

Wir küssten uns nochmal zum Abschied und dann verschwand mein Freund ebenfalls in dem Audi SUV.

Ich seufzte. Mein Dad kam natürlich zu spät. Ich schaute mich um. Es war schon dunkel und in meiner Nähe lungerten unangenehme Gestalten herum. Typen in Bikerjacken und kahl rasierten Köpfen tranken Bier, während sie in einer Gruppe standen und laut lachten und grölten. Langsam entfernte ich mich von ihnen und hoffte, dass mein Vater bald auftauchen würde.

Ich zog mein schwarzes Etui aus der Hosentasche, nahm eine der Kippen daraus und steckte sie mir zwischen die Lippen, während ich mit der anderen Hand nach meinem Zippo suchte. „Hast du mir auch Feuer?" Ich erschrak fast zu Tode. Einer der Biker stand neben mir, ebenfalls mit einer Kippe im Mund und grinste.

„Ähm, okay ..." Mein Zippo klickte und ich hielt die kleine Flamme an die Zigarette des Fremden und dann an meine eigene.

„Cool, danke! Willst' auch ein Bier?", fragte er mich und nickte in die Richtung seiner Gruppe.

„Ähm ..." Gott, wo bleibt mein verdammter Vater!

„Tristan!" Ein schwarzer Mercedes hatte neben mir und dem Fremden gehalten, das Fenster war heruntergefahren.

„Sorry, muss los!" Schnell schmiss ich meine Kippe auf den Boden und stieg in den Wagen ein.

„Hey", begrüßte ich meinen Vater. Er saß auf dem Fahrersitz. Wie immer trug er seine schwarzen Haare kurz und dazu einen Dreitagebart. Er war älter geworden, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte und dicker. Sein Bierbauch passte fast nicht hinter das Lenkrad.

„Witaj mój synu. Jak minęła podróż?", brummte seine tiefe Stimme. Er lächelte mich an mit seinen eisblauen Augen, aber ich wusste, dass das bei ihm meistens nur Fassade war. Dann startete er den Motor und fuhr los.

„Die Fahrt war gut, aber red' bitte deutsch mit mir, Dad."

„Ja ja", grummelte er wie immer. Er konnte es nicht leiden, dass Mama zu Hause mit uns fast nur Deutsch redete. Für ihn war es eine Schande, dass ich so wenig mit der polnischen Kultur zu tun hatte. 

„Und Maja wollte nicht mitkommen?"

„Nee, sie muss lernen." Erst jetzt sah ich mich um. Ich kannte mich nicht wirklich mit Autos aus, aber der Innenraum wirkte ziemlich hochwertig und neu auf mich. Wie konnte sich der Säufer sowas leisten? 

Als er noch bei uns gewohnt hatte, hatte er das Geld, das Mama verdiente, ständig für seinen Alkohol ausgegeben. Und als ich vor zwei Jahren das letzte Mal bei ihm war, hatte er noch nicht einmal einen Wagen besessen. Jetzt umfassten seine fetten, mit Goldringen verzierten Finger ein elegantes Lederlenkrad.

Schweigend fuhren wir ungefähr fünfzehn Minuten durch Hamburg. Das Viertel, in dem wir uns gerade befanden, sah, soweit ich das im Dunkeln beurteilen konnte, schön aus, kam mir aber nicht bekannt vor. Eine Altbauvilla reihte sich an die andere und rechts von uns lag ein idyllischer Fluss. Das Auto wurde langsamer und mein Dad bog in den Hof einer dieser Villen ein.

„Musst du noch was erledigen?", fragte ich ihn.

Er schaute mich fragend an und dann schien er es zu verstehen. „Ach so, du kennst das Haus noch gar nicht. Ich wohne hier seit einem Jahr mit Nadja." Stimmt! Er hatte mal am Telefon erwähnt, dass er mit seiner neuen Freundin zusammengezogen sei, aber damals hatte ich sicher nicht an so ein riesiges Haus gedacht.

Tristan und Timothy 2 [BxB] - Wenn Eis und Bernstein eins werdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt