Kapitel 1

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Hawk

Sie zerrte mich durch die dreckigen Gassen. Selbst als Kind, das keinen anderen Ort als diesen namenlosen Bezirk einer Großstadt im englischen Herrschaftsgebiet kannte, war mir bewusst, dass es besonders schmutzig war.

Die Menschen schütteten die Inhalte ihrer Latrinen einfach aus den Fenstern, mitten auf den Straßen. Egal, wen sie trafen, damit vielleicht oder nicht.

Aber ich war es gewohnt, in der Scheiße und Pisse anderer zu laufen. Zu spielen. Manchmal auch zu schlafen. Je nachdem, wie beschäftigt meine Mutter in den Nächten war.

Heute hatte sie mich vor Sonnenaufgang geweckt, mir gesagt, ich solle mich anziehen und mitkommen.

»Wohin gehen wir, Mutter?«, fragte ich in der Hoffnung, diesmal eine Antwort zu bekommen.

»Still«, moserte sie genervt und weil sie wohl genug von meinem Gequengel hatte, schlug sie mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Nichts Neues, aber es tat dennoch jedes Mal weh. Nicht nur körperlich.

Kinderherzen waren zerbrechlich und meines war keine Ausnahme.

Hätte ich geahnt, dass diese Frau mir an genau diesem Tag, meines zertrümmerte und mich auf einen Weg bringen würde, der mich zu dem macht, der ich werden würde, hätte ihr in die Hand gebissen, um mich zu befreien, und wäre in dem Dreck und der Scheiße untergetaucht. Vielleicht wäre ich gestorben. Möglicherweise auch nicht. Und unter Umständen, wäre es besser gewesen, wenn ich damals in den Gossen verhungert wäre.

Aber ich wusste es damals nicht. Dachte zu diesem Zeitpunkt noch immer, diese Frau würde mich lieben, wie eine Mutter ihr Kind eben liebte.

Ich ließ die Tränen also wortlos laufen und mich weiter mitzerren, während meine Wange heiß brannte. Ich fragte nicht mehr und sagte nichts mehr. Trat in die Scheiße der Städter und rutschte weg, wenn meine Mutter mich gnadenlos durch die Stadt schleppte und wir eines der halb zerfallenen Häuser nach dem anderen hinter uns ließen.

Wir erreichten den Hafen, als die Sonne, mit ihren ersten Strahlen, den Himmel leicht rosa, orange und hellblau färbte. Es sah schön aus. Der Horizont, die ganzen Schiffe, die anlegten und die, die auf dem Ozean trieben, um entweder auch anzulegen, oder von hier weg zusegeln.

»Mutter, wo-«, setzte ich wieder an, weil ich eben nur ein Kind war. Dumm und unverbesserlich. Neun Sommer alt. Soweit ich es wusste. Mutter zählte nicht, sagte, mein Alter wäre egal, denn ich würde sowieso nie zu einem Mann heranwachsen. Ich sei schwach und kränklich.

Und tatsächlich hatte ich früher oft Husten, kämpfte mit Fieber und anderen Krankheiten. Aber ich überlebte alle. Sogar die Pocken hatte ich ohne Medizin und wärmendes Bett überlebt. Meine Mutter hatte mich aus dem Haus geschmissen, was wir uns mit vielen Frauen und den unzähligen fremden Männern teilten, die Nacht für Nacht zu Besuch kamen. Sie hatte befürchtet, ich würde die Krankheit unter den Frauen verbreiten. Fünf Tage hatte ich deshalb vor der Tür meine Erkrankung bekämpft und gegen jede Warscheinlichkeit überlebt. Zum Glück war es Sommer gewesen, denn andernfalls wäre ich wohl damals erfroren.

Als ich sie in jenen Tagen fragte, ob das nicht auch Stärke sei, hatte sie mich mehrmals hart geohrfeigt und mir vor die Füße gespuckt.

»Du bist eine Plage, die ich nicht loswerde«, hatte sie geantwortet. »Wärst du doch nur wie deine Geschwister nach der Geburt einfach verreckt.«

Ich verstand ihre Abneigung nicht. Suchte immer Momente, die mir zeigten, wie sehr sie mich liebte. Hielt mich an dem kleinen Eckstück Brot fest, oder dem schimmligen Käse, das sie mir gab, wenn ich zum hundertsten Mal bettelte und weinte, ich habe Hunger. Ich klammerte mich an jedes Streicheln meines Kopfes, wenn ich genug Geld erbettelt hatte. Jeder Blick, der nicht voller Hass und Verachtung war, war ein Lichtblick für mich, dass sie mich doch liebte. Irgendwie. Auf ihre grausame, brutale Weise.

Red Prinzess, deliver me  {OC x OC}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt