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Verschlafen und benebelt zwang ich mich aus dem Bett. Der gestrige Abend hatte mich vollkommen aus der Bahn geworfen. Es war ein Treffen mit einem älteren Geschäftsmann gewesen, dessen Pädophilie im Verborgenen wucherte. Sein Name war Drino, und er führte sein schmutziges Geschäft auf dem Dach eines Casinos. Er trieb sich an Orten herum, wo kleine Mädchen unschuldig spielten – auf Jahrmärkten, in Zirkussen, sogar auf Spielplätzen. Sein Netzwerk war weit verzweigt, und seine Leute umzingelten diese Plätze mit Vans, stets bereit, zuzuschlagen. Drino entführte die Kinder, verschleppte sie in eine verlassene Lagerhalle, wo er sie an wohlhabende Geschäftsmänner verkaufte. Männer, die bereit waren, Unsummen zu zahlen, um ihre kranken Fantasien an diesen unschuldigen Engeln auszuleben. Und wenn sie genug hatten, verkauften sie die Kinder weiter. So funktionierte der grausame Kreislauf seines Unternehmens. Gestern hatte ich das Casino betreten, mich an ihn herangeschlichen und ein Gespräch begonnen. Er war leicht zu durchschauen – redselig, süchtig nach Aufmerksamkeit. Es war ein Leichtes, sein Vertrauen zu gewinnen, und seine Sympathie für mich zeigte er nur zu deutlich. Mit Stolz führte er mich durch seine Räume, prahlte mit seiner Macht, bis er bei einer verschlossenen Tür innehielt. Plötzlich veränderte sich seine Haltung, und er stürzte hektisch auf mich zu. Doch bevor er handeln konnte, war ich schneller. In einem fließenden, routinierten Bewegungsablauf stieß ich ihm mein Messer in die Schläfe. Blut spritzte auf den Boden, als sein Körper zuckend zusammensackte. Ich stand über seiner Leiche, rieb mir die Schläfen und versuchte, den Anblick zu verarbeiten. Obwohl ich eine erfahrene Killerin war, die viele Leben genommen hatte, gab es immer noch Momente, die mich tief trafen, die an meiner Psyche nagten. Aber das Thema Drino war für mich erledigt – mit Sanzu war alles gesagt. Die Woche verstrich schnell, und mit jedem neuen Auftrag schob ich die düsteren Gedanken an ihn weiter beiseite. Dennoch flatterten die Schmetterlinge, die ich einst für ihn gefühlt hatte, immer noch hin und wieder in meiner Brust.

Trotz dieser inneren Unruhe zwang ich mich aus dem Zimmer und schlurfte müde in die Küche. Ich öffnete den Kühlschrank, suchte nach etwas Essbarem. Zwei Eier, ein paar Tomaten. In Gedanken versunken wollte ich die Kühlschranktür schließen, als Kenny plötzlich hinter mir auftauchte. Vor Schreck entglitt mir beinahe das Ei. „Gotteswillen!" stieß ich aufgebracht hervor und funkelte ihn an. „Miss Kaito, es ist meine Aufgabe, Ihnen das Frühstück zu richten," sagte er mit einem bitteren Unterton und nahm mir die Zutaten aus den Händen. „Hör auf, mich ‚Miss Kaito' zu nennen. Für dich bin ich Avara," fauchte ich leicht genervt und setzte mich an den Tisch. „Es gehört zu meinen Pflichten, Sie beim Nachnamen anzusprechen," erwiderte er gelassen, während er eine Pfanne aus dem Regal nahm. Ich rollte mit den Augen, griff nach einem Apfel und biss genüsslich hinein. „Hab ich Falten im Gesicht?" fragte ich mit vollem Mund und hob die Augenbrauen. „Nein," lachte er leise und begann, die Tomaten zu schneiden. „Na also, dann bin ich Avara für dich," sagte ich bestimmend und wartete auf mein Frühstück. In diesem Moment betrat Rodrigez die Küche. „Morgen," murmelte er verschlafen und ließ sich neben mich sinken. Rodrigez war die ganze Woche auf Geschäftsreise gewesen. Alles allein zu bewältigen, hatte mich geschlaucht, und ich sehnte mich nach einer Pause.

Ich spürte, wie mein Körper langsam den Verstand verlor, wie die Müdigkeit mich innerlich zerfraß.

Es war, als könne Kenny meine Gedanken lesen, denn er wandte sich an Rodrigez. Ich schätzte Kenny auf etwa 36 Jahre. Gut gebaut, intelligent, fast übertrieben ordentlich. Er war immer tadellos gekleidet, sorgsam gepflegt. Aus seinen Erzählungen wusste ich, dass er nie verheiratet gewesen war und keine Kinder hatte. Doch das verblüffte mich immer wieder – mit seinem Aussehen und seinem Verstand hätte er mühelos etwas anderes tun können als Butler zu sein. Ich hatte ihn oft gefragt, warum er diesen Weg gewählt hatte, aber er wich der Frage stets aus. „Finden Sie nicht, dass Avara mal eine Pause braucht? Schauen Sie sie sich an, sie bricht bald zusammen," stellte Kenny fest, und ich riss erstaunt die Augen auf. Röte stieg mir ins Gesicht, als ich mich langsam zu Rodrigez umdrehte. Sein Gesicht war undurchdringlich wie immer, ein Pokerface, eiskalt und unbewegt. Seine blauen Augen bohrten sich in mich, ließen einen Schauer über meinen Rücken laufen. „Warum nicht," sagte er gleichgültig und zuckte mit den Schultern. Eine tiefe Falte bildete sich zwischen meinen Brauen. „Ich buche dir einen Flug nach Spanien," fügte er lässig hinzu, während er an seinem Kaffee nippte.

„Aber," begann er, und seine Worte ließen mich aufhorchen, „du musst heute noch deinen letzten Auftrag erledigen. Dann kannst du abfliegen." Gespannt drehte ich mich auf meinem Stuhl zu ihm, legte den Apfel zur Seite und wartete auf mehr.

Etwas stimmte nicht. Irgendetwas lag in der Luft, etwas Dunkles, Bedrohliches. Rodrigez benahm sich seltsam, seine Art war anders, ungewohnt kühl. Kenny stellte mir das Frühstück vor die Nase, und ich bedankte mich mit einem leisen Nicken. „Heute Abend in der Bar sind zwei Geschäftsmänner, die im Frauenhandel in Südafrika involviert sind. Du kennst deinen Auftrag," sagte Rodrigez und schob mir einen Zettel über den Tisch. Darauf standen die Namen und Beschreibungen der Männer. Ich las die Lebensläufe schnell durch, doch mein Appetit verschwand.

„Sei vorsichtig und habe immer deine Augen offen, Avara," fügte er kühl hinzu, erhob sich und verließ die Küche, ohne ein weiteres Wort. Verwirrt sah ich ihm nach, spürte, wie das mulmige Gefühl in mir wuchs. Verwundert tauschte ich einen Blick mit Kenny, der Rodrigez ebenfalls nachsah. Den Zettel steckte ich ein und stocherte lustlos in meinem Essen herum. Der Hunger war mir vergangen, und ein beklemmendes Gefühl breitete sich in mir aus.

Two broken Souls/ Sanzu HaruchiyoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt