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Es heißt, erst dann, wenn man alles verloren hat, hätte man die Freiheit alles zu tun – und dass auf jeden Verlust etwas Größeres, Besseres folgt.

Ich glaubte nicht mehr daran.


Mein Leben lang war ich überzeugt davon gewesen, dass die besten Zeiten noch vor mir lägen. Dass all der Schmerz und all die Verzweiflung, die ich in den vielen Jahren bei Eldrid durchlebt hatte, sich irgendwann auszahlen würden, dass sich das Blatt eines Tages wenden und ich auf der Sonnenseite des Lebens stehen würde.

Ich musste das glauben, denn sonst hätte ich in Hjartvik nicht überleben können. Ich brauchte die Hoffnung auf Gerechtigkeit, auf eine bessere Zukunft, sonst hätte ich aufgegeben.

Als ich dann die Chance bekam, auf der Aetheria anzuheuern, dem gigantischen Luftschiff der Seraphim, sah zunächst auch alles danach aus, als würden meine Träume wahr werden. Natürlich hatte das Leben auf dem Schiff Schattenseiten, allen voran die Tatsache, dass die Engel uns Menschen nicht als gleichwertige Wesen betrachteten und oft entsprechend behandelten.

Doch die positiven Seiten überwogen. Ich mochte einen schlechten Stand haben, doch ich war in Sicherheit. Ich verdiente gutes Geld, fand Freundinnen und hatte Zukunftspläne. Ich fand sogar Liebe, auch wenn sie nicht erwidert wurde.

Erst rückblickend wurde mir klar, dass ich in den Wochen auf der Aetheria alles hatte, wovon ich mein Leben lang geträumt hatte.

Und dann hatte ich alles verloren.

Erst jetzt verstand ich, dass Hjartvik nicht die schlimmste Zeit in meinem Leben gewesen war. Damals hatte ich nichts, aber das hatte einen großen Vorteil – wer nichts hat, kann auch nichts verlieren.

Doch jetzt ... Jetzt war mir ein kleines Fenster geöffnet worden, das mir einen Blick auf ein Leben gezeigt hatte, wie es hätte sein können. Das Schicksal hatte mir honigsüße Versprechungen von einer leuchtenden Zukunft gemacht, nur um dann mit seiner vollen Härte zuzuschlagen und mir alles zu entreißen, was ich mühsam zum Wachsen gebracht hatte. Es hatte mich verhöhnt.

Und nun wusste ich eins: Wer alles verloren hat, mag frei sein.

Doch wer seine Hoffnung verloren hat, ist wie ein Schiff ohne Kompass auf einem stürmischen Meer – ziellos und unfähig, jemals wieder einen sicheren Hafen zu erreichen.



Ein leises Klopfen an der Tür riss mich aus meiner Lethargie. Ich wandte mich von der breiten Fensterfront ab, die den Blick auf Lysandra freigab, und sagte: „Herein."

Es war Kira, eine der Dienerinnen, die mir Frühstück brachte. Sie trug ein braunes Kleid aus grobem Leinen, darüber eine weiße Schürze, und hatte ihr blondes Haar zu zwei dicken Zöpfen geflochten, die ihr wie Seile über die Schultern fielen. Darüber trug sie eine weiße Haube. Ihr rundes Gesicht war gebräunt, auf der Nase prangten unzählige Sommersprossen. Demütig senkte sie den Blick und sah mich nicht an, als sie das Tablett auf dem Tischchen neben der herrschaftlichen Ottomane abstellte, auf der ich die meiste Zeit des Tages verbrachte. Ich hasste es, dass ich bedient wurde – noch dazu von menschlichen Frauen.

„Du darfst mich ansehen und mit mir reden, Kira", sagte ich, bestimmt zum fünfzigsten Mal. Ich konnte nicht verhindern, dass ich inzwischen ein wenig gereizt klang, und sofort schalt ich mich innerlich dafür. Das Mädchen war ohnehin schon eingeschüchtert genug, da machte es ein unfreundlicher Tonfall mit Sicherheit nicht besser. Etwas sanfter fügte ich deshalb hinzu: „Ich bin keine Seraphima, ich bin nur ein Mensch, wie du. Schon vergessen?"

Sie schüttelte schüchtern den Kopf, dann nickte sie. „Ihr seid gnädig, Herrin", flüsterte sie. „Wenn Ihr noch etwas wünscht, klingelt einfach nach mir."

Amid the Spring Forest [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt