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„Es tut mir so leid", murmelte ich. „Und bitte entschuldige, dass ich dich so neugierig ausgefragt habe."

Vehement schüttelte sie den Kopf. „Nein, nein, das muss dir nicht leidtun", sagte sie schnell. „Es tut gut, darüber zu reden. Ich habe hier bisher mit niemandem darüber gesprochen. Natürlich kennen alle meine Geschichte, in diesem Palast bleibt kein Geheimnis lange verborgen. Klatsch und Tratsch verbreitet sich schneller als eine ansteckende Krankheit. Aber niemand hat nachgehakt."

Ich wollte noch so vieles fragen, doch ich traute mich nicht mehr. Kira sah so elend aus, während sie ihre Geschichte erzählt hatte, und ich wollte keine alten Wunden aufreißen, wollte nicht tiefer bohren. Doch sie fuhr von selbst fort.

„Deine Eltern sind ja auch tot, du weißt ja, wie es sich anfühlt", sagte sie matt.

Am liebsten hätte ich widersprochen. Ja, meine Eltern waren tot, doch im Gegensatz zu Kira hatte ich sie nie wirklich kennengelernt – und was man nicht kennt, kann man schlecht vermissen. Ich glaubte kaum, dass der Schmerz vergleichbar war. Eher war es der Verlust von Nova, der mich quälte.

„Jedenfalls", fuhr Kira dann fort, „haben sie mich dann weggeschickt. Die Familie, bei der ich gelebt habe. Sie waren so entsetzt wie ich, aber sie meinten, dass ich bei ihnen nicht mehr sicher sei und sie wollten mich schützen. Vor fünf Jahren fing es an, dass manche Seraphim diesen Hass auf die Menschen entwickelten. Oriana, das war die Seraphima der Familie, besorgte mir die Stelle am Palast. Sie war der Meinung, dass ich hier am sichersten wäre. Vermutlich wäre es besser gewesen, nach Irdysia zu gehen, aber ich hatte solche Angst. Meine Eltern waren tot und das war mir ja alles fremd. Es fühlte sich sicherer an, hierzubleiben. In Lysandra, meinem Zuhause."

Ich griff nach ihrer Hand. „Ich kann das verstehen", sagte ich sanft. „Mir ging es in Hjartvik so schlecht, aber es war mir vertraut. Ich hatte immer vor, irgendwann in den Zug zu steigen und in den Süden zu fahren, sparte jahrelang dafür, aber die Wahrheit ist, dass es nicht nur am Geld haperte, sondern auch an meinem Mut. Ich hätte ja nicht gewusst, worauf ich mich einlasse. Manchmal fühlt es sich leichter an, in einem schlechten Leben zu bleiben, das man wenigstens kennt, als sich kopfüber ins Unbekannte zu stürzen."

„Und dennoch hast du es getan." Kira lächelte. „Du bist mutig, Lumi."

Ich verzog das Gesicht. „Ich hatte keine andere Wahl mehr", gab ich zu. „Es wurde immer schlimmer und zum Schluss hatte ich mir so viele Fehltritte geleistet, dass Eldrid mich umgebracht hätte, wenn ich geblieben wäre. Ich hatte großes Glück, dass die Aetheria mich mitgenommen hat."

Kurz verlor ich mich in den Erinnerungen an damals. An den ersten Tag, die Ankunft des Schiffes auf der großen Lichtung ... und an das Gespräch mit Cassiel im Skjold Og Sverd, der schäbigen alten Taverne, in die ich ihn gebracht hatte. Wie aufgeregt ich unter seinen prüfenden Blicken gewesen war. Und wie empört über sein unerhörtes Angebot ...

Die Erinnerung ließ mich unwillkürlich schmunzeln. Wenn ich damals gewusst hätte, was ich auf der Aetheria noch alles tun würde – dass es nicht beim Tanzen bleiben würde ...

Mir wurde heiß und ich verscheuchte die Gedanken.

„Wie war das damals?", fragte ich Kira. „Du sagtest, der Hass auf die Menschen fing an ... Falls du darüber reden möchtest."

Sie schluckte, dann nickte sie. „In den Sechzigerjahren wurden zum ersten Mal die Grenzen für Gastarbeiter geöffnet", wiederholte sie. „Zunächst lief auch alles gut. Natürlich war ich damals noch nicht dabei, aber so ist es mir erzählt worden. Vorher hatten Engel und Menschen jahrhundertelang nichts miteinander zu tun, und plötzlich merkte man, dass man voneinander profitieren konnte. Die Menschen konnten Irdysia verlassen und das Reich der Engel kennenlernen, was für viele wahnsinnig aufregend war. Für meine Eltern ging ein Traum in Erfüllung. Na ja, und die Seraphim merkten, dass sie Menschen für Arbeiten bezahlen konnten, die sie selbst nicht tun wollten. Aber vor einigen Jahren wendete sich das Blatt. Ich kann dir nicht sagen, wo genau es seinen Anfang genommen hat, aber plötzlich gab es Bewegungen, die die Menschen loswerden wollten. Die sich wieder auf die alten Überzeugungen beriefen, die davon sprachen, dass Menschen schmutzig und minderwertig seien, Staubseelen ..."

Sie brach ab, schluckte schwer. „Und dann hörte man immer wieder von Angriffen auf Menschen", sagte sie. „Aber meine Eltern machten sich keine Sorgen. Sie waren so glücklich hier. Und sie waren überzeugt davon, dass es nur eine Phase sei, eine Art Mode, die irgendwann wieder verschwinden würde. Und dann ging es mit den Kreuzfahrten los. Die Sache mit den Kreuzfahrten, das war so eine Art Gegenbewegung. Es ging darum, nicht nur die Menschen nach Araboth zu holen, sondern auch den Seraphim die Möglichkeit zu geben, Irdysia kennenzulernen, und die Leute dort. Der Erhabene war der festen Überzeugung, dass die menschenfeindlichen Bewegungen im Keim erstickt würden, wenn die Seraphim ihre Welt mit eigenen Augen sehen würden. Wenn sie sie kennenlernen konnten. Er wollte Ängste und Vorurteile abbauen, doch das ging wohl nach hinten los."

Vermutlich wäre es nicht nach hinten losgegangen, wenn er rechtzeitig gemerkt hätte, was Michael für ein falsches Spiel trieb, dachte ich bitter. Doch ich sprach es nicht aus. Ich kannte Kira noch zu schlecht, um ihr von Michaels Verrat zu erzählen, davon abgesehen wusste ich ja nicht, ob es Cassiel überhaupt Recht gewesen wäre.

Aber ich war mir sicher, wenn Michael nicht heimlich gegen ihn gearbeitet hätte, den Rat und die Bevölkerung gegen ihn aufgebracht und sich mit den Cherubim verbündet hätte, dann hätte es klappen können.

Kira erhob sich und rieb sich über die Augen. „Ich gehe jetzt in mein Zimmer", sagte sie und gähnte. „Wir müssen in vier Stunden schon wieder aufstehen."

Es gab noch so vieles, das ich sie fragen wollte – darüber, was mit Naomi geschehen war, zum Beispiel. Aber für heute war es wirklich genug. Und so erhob ich mich ebenfalls, schloss sie noch einmal in eine feste Umarmung und verabschiedete mich von ihr.

„Ich bin froh, dass du da bist", sagte ich – etwas, das ich Nova viel zu selten gesagt hatte und nun besser machen wollte. „Du machst es dort unten erträglicher."

Sie lächelte. „Das kann ich nur zurückgeben, Lumi."

Amid the Spring Forest [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt