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"Ich muss ... gehen?"

Das Blut rauschte mir in den Ohren und meine Gedanken rasten. Unzählige Fragen wirbelten in meinem Kopf umher und ich bekam kaum eine von ihnen zu fassen. Noch immer kniete ich vor Cassiel auf dem Boden, zwischen seinen polierten Schuhen, die Hände nun auf den nackten Oberschenkeln abgelegt, und blickte zu ihm auf.

Eine Position, die mir vertraut war, die mir eine seltsame, trügerische Sicherheit gab – auch wenn diese Situation eine so völlig andere war als die, die ich gewöhnt war.

„Warum?", presste ich schließlich die einfachste Frage hervor, die mir in den Sinn kam. Um gleich danach hinterherzuschieben: „Und wohin?"

„Es gab heute Nacht eine lange Sitzung des Rates", sagte er erneut. „Und es wurde beschlossen, dass es neue Regelungen bezüglich der Menschen geben soll, die hier in Araboth leben. Diese treten ab sofort in Kraft. Es tut mir leid, dass ich keine besseren Nachrichten habe, Lumi. Michael hat es geschafft, die meisten der Ratsmitglieder zu überzeugen und ich wurde überstimmt."

„Aber ... aber was bedeutet das genau?", fragte ich. Ich flüsterte, aus Angst, dass meine Stimme sonst brechen würde. „Warum braucht es neue Regelungen? Und welche sind das? Was passiert mit mir, wo soll ich hingehen? Bringt Ihr mich zurück nach Irdysia?"

Er schüttelte den Kopf. „Nein, du wirst hierbleiben. Kein Mensch darf Araboth verlassen, die Grenzen sind seit gestern komplett verschlossen, zur Sicherheit. Es darf niemand herein und niemand hinaus."

„Ich muss in Araboth bleiben? Aber wo soll ich denn hin? Kann ich nicht einfach bei Euch bleiben? Ich verspreche, ich werde Euer Gemach nicht verlassen. Ich weiß, dass ich auf dem Schiff nicht gehorsam war, aber das hat sich geändert. Ich habe daraus gelernt, und ..."

„Es gibt noch mehr neue Regeln, Lumi", unterbrach er mich. „Du kannst nicht in meinen Räumen bleiben. Michael konnte den Rat davon überzeugen, dass all unsere Probleme nur daraus entstanden sind, dass wir die Regeln gelockert haben, dass wir in den vergangenen Jahren nicht strikt genug waren und die bestehenden Gesetze nicht mit der nötigen Härte durchgezogen haben. Dass die Menschen uns deshalb auf der Nase herumtanzen, uns nicht mehr ernst genug nehmen. Er und die anderen Ratsmitglieder – zumindest eine Mehrheit von ihnen – sind der Meinung, dass wir wieder richtig durchgreifen müssen, wenn wieder Ruhe einkehren soll. Dass wir uns lieber darum kümmern sollten, uns den Cherubim anzunähern, anstatt den Menschen, und dass uns das nur dann gelingen kann, wenn wir mit ihnen gemeinsam an einem Strang ziehen."

Mit einem Mal machte sich eine gewaltige Übelkeit in mir breit. Mein Magen drehte sich schier um und ich konnte bereits spüren, wie es mir die Kehle hinaufstieg. Mit aller Kraft würgte ich das Gefühl zurück.

Michael gab offen zu, dass er auf Seiten der Cherubim stand – und es hatte keine Konsequenzen für ihn? Mehr noch, die anderen Ratsmitglieder gaben ihm Recht?

Was passierte hier? Und wenn das wirklich stimmte, warum wollte Cassiel mich dann ausgerechnet jetzt aus dem Palast werfen – wollte er mich etwa ausliefern?

„Was soll das bedeuten?", presste ich hervor. „Hart durchgreifen? Will Michael etwa auch alle Menschen töten?" Ich zitterte so sehr, dass die Worte meinen Mund nur stockend verließen.

„Nein, das will er nicht", sagte Cassiel. „Ich meine, er will es mit Sicherheit, nach allem, was du mir erzählt hast. Aber noch sind wir nicht so weit, dass er das vor dem gesamten Rat offen zugeben würde. Nein, er will zurück zu den alten Regeln: Keine Menschen mehr nach Araboth. Da nun allerdings welche hier sind und die Grenzen geschlossen wurden, werden bestehende Regelungen verschärft und wieder konsequent durchgezogen, das bedeutet: Kein Blickkontakt, nicht selbständig das Wort an einen Seraph richten, absoluter Gehorsam."

Automatisch senkte ich den Blick.

„Außerdem dürfen keine wie auch immer gearteten Beziehungen mehr zwischen Menschen und Engeln eingegangen werden. Für Liebesbeziehungen galt das schon immer, doch nun gilt auch: Keine Affären, keine Freundschaften. Solange sie hier sind, müssen die Menschen unsere Diener sein."

„Werden sie dafür bezahlt?", hörte ich mich fragen. Noch immer sah ich ihn nicht an. Ich wollte nicht, dass er den Schmerz in meinen Augen sah, die grenzenlose Enttäuschung.

„Nein", sagte er schließlich nach einer Weile. „Sie werden nicht bezahlt und es gibt von nun an auch keine Verträge mehr zu ihrem Schutz."

„Dann sind wir keine Diener, sondern Sklaven", flüsterte ich. Ich konnte nicht verhindern, dass meine Augen sich mit Tränen füllten. Wie konnte etwas so himmelschreiend ungerecht sein? Wie konnte Gott es zulassen, dass wir so behandelt wurden, dass wir in den Augen der Engel so wenig wert waren, dass uns selbst die simpelsten Rechte verwehrt wurden?

Bei Eldrid war es schlimm gewesen, auch dort war ich eine Leibeigene gewesen. Doch dort war ich zuhause, ich hatte Nevis und war nicht in einem Gefängnis eingesperrt. Nun jedoch war ich dem Wohlwollen all dieser Engel vollumfänglich ausgeliefert, und das in dem Wissen, dass sie mich am liebsten tot sehen würden. Nur weil ich ein Mensch war, etwas, das ich mir nicht ausgesucht hatte, etwas, das mir bei der Geburt einfach zugeteilt worden war. Es war nicht fair.

Cassiel griff nach meinem Kinn und hob es an, sodass ich nun zu ihm aufsehen musste. Mit dem Daumen wischte er eine Träne fort.

„Ich verspreche dir, dass ich die Sache in Ordnung bringen werde", sagte er. „Ich werde alles tun, um dich zu beschützen, aber vorerst haben wir keine Wahl und müssen das Ganze mitspielen. Es ist leider eine unangenehme Angewohnheit von uns Engeln wie auch von den Menschen, dass wir uns in unsicheren Zeiten an alte Gewohnheiten klammern. Aber ich werde es schaffen, den Rat davon zu überzeugen, dass Rückschritt niemals eine Lösung sein kann. Und sobald sich die Lage beruhigt hat und die Grenzen wieder geöffnet sind, werde ich dich sofort an einen Ort bringen, an dem du frei und sicher bist. Das verspreche ich dir."

Ich wollte ihm so gerne glauben, wollte die Hoffnung nicht verlieren, doch wenn ich in mich hineinspürte, fühlte ich nichts als Angst.

Cassiel erhob sich.

„Kira wird demnächst kommen und dir deine neue Kleidung bringen", sagte er tonlos, doch er sah mich dabei nicht mehr an. Er ging um mich herum, und bevor ich noch etwas sagen konnte, war er bereits an der Tür und hatte eine Hand an der Klinke. „Sie wird dich dann mitnehmen zu den Dienstbotenunterkünften, dort kannst du fortan leben. Dort werden dir auch deine neuen Aufgaben gezeigt. Fortan wirst du mich mit Erhabener ansprechen. Halte durch, Schneekätzchen. Es wird alles gut werden. Ich verspreche es."

Erneut ein Versprechen.

Doch ich glaubte nicht an sie. Schon lange nicht mehr.

Amid the Spring Forest [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt