~ 8 ~

54 5 0
                                    

Ich hatte keine Zeit, um in Panik auszubrechen. Bereits kurz darauf erschien Kira in Cassiels Gemach, um mich mitzunehmen. Sie hatte einen dicken Packen aus grauem und weißem Stoff dabei, und nun sah sie mich endlich richtig an und lächelte sogar leicht. Nun war ich nicht mehr die Fremde, die im Bett des Obersten Seraphs schlief – sondern eine Leidensgenossin. Merkwürdigerweise fühlte sich das für einen kurzen Moment gut an. Auf einmal war ich nicht mehr allein.

„Der Erhabene hat mir gesagt, dass ich Euch mitnehmen soll", sagte sie sanft. Sie drückte mir das Bündel Stoff in die Arme und kicherte. „Aber nicht so. Ihr solltet Euch erst anziehen."

Ich schlüpfte ohne Umschweife aus dem dünnen Hemdchen, das ich trug, und Kira wandte sich peinlich berührt ab. Erst da wurde mir bewusst, dass ich die Verhaltensweisen, die ich mir auf der Aetheria angewöhnt hatte, noch immer in mir trug. Es machte mir nichts mehr aus, mich vor Fremden zu entkleiden, zumindest nicht, wenn es Frauen waren. Vielleicht sollte ich mir wieder ein bisschen mehr Schamgefühl zulegen, vermutlich wäre es hier im Palast angebracht.

„Bitte entschuldige", murmelte ich, während ich schnell in die Sachen schlüpfte. „Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen."

Sie sagte nichts, und als ich angezogen war und in den Spiegel sah, musste ich schlucken. Mir war klar gewesen, dass der Luxus, an den ich mich in den vergangenen Wochen gewöhnt hatte, nun vorbei war. Ich hatte gewusst, dass ich nun keine weichen Stoffe, seidenen Palazzo-Hosen oder herrschaftlichen Kleider mehr tragen durfte, doch was Kira mir gebracht hatte, glich einem Haufen Lumpen. Verglichen mit mir, sah sogar sie in ihrem Leinenkleid wie eine Prinzessin aus.

Was ich nun trug, war ebenfalls ein Kleid aus Leinen, nur dass es in einem schmutzigen, verwaschenen Grauton war. Der Stoff war so alt und so oft gewaschen worden, dass er dünn und fadenscheinig war, an manchen Stellen fast durchsichtig. Vor Kälte konnte dieses Teil mich mit Sicherheit nicht schützen. Es war so oft gerissen, dass es überall mit dunkelgrauen und schwarzen Flicken repariert worden war, die Säume waren allesamt ausgefranst. Dazu hatte ich eine weiße Schürze und eine weiße Haube bekommen, wie auch Kira sie trug. Die Schuhe, die sie mir gegeben hatte, waren dünn und ihre Sohlen durchgetreten, der linke Schuh hatte auch ein Loch vorne.

Kira schenkte mir ein entschuldigendes Lächeln. „Es tut mir leid. Es war die einzige Garnitur, die wir noch hatten. Sie hat vorher einer anderen Zofe gehört, aber die ist schon lange nicht mehr hier. Ich fürchte, die Mäuse haben sich daran zu schaffen gemacht. Es sah noch schlimmer aus, ich habe versucht, alles zu reparieren. Als ich heute Morgen erfahren habe, dass Ihr kommt, habe ich mich gleich an die Arbeit gemacht."

Ich riss meinen Blick von meinem Spiegelbild los und zwang ein Lächeln auf meine Lippen. „Ist schon in Ordnung, Kira. Danke, dass du es für mich repariert hast."

„Das habe ich gern gemacht."

„Bitte, tu mir nur einen Gefallen", flehte ich sie an. „Nenn mich einfach bei meinem Namen und duze mich. Kein Ihr, kein Euch. Ich heiße Lumi."

„Aber", sagte sie und ich konnte ihr ansehen, dass es ihr sichtlich unangenehm war, „Ihr seid mit dem Erhabenen hergekommen."

„Ja, und nun bin ich genau da, wo du auch bist. Ich bin nichts Besonderes. Ein einfacher Mensch, mehr nicht. Bitte, tu mir den Gefallen. Ich bin so einsam, Kira. Und nun muss ich Cassiel verlassen, die Engel würden uns Menschen am liebsten alle töten oder mindestens aus Araboth verbannen. Bitte schließ mich nicht aus, indem du mich behandelst, als wäre ich keine von euch. Ich brauche niemanden, der mich anbetet. Was ich jetzt brauche, das ist eine Freundin."

Sie nickte und lächelte. „Na gut, das kann ich verstehen. Lumi. Ein schöner Name."

„Es bedeutet Schnee", sagte ich, glücklich darüber, eine normale Unterhaltung mit einem normalen Menschen führen zu können. Das letzte Mal schien ewig her zu sein, dabei hatte ich vor wenigen Tagen noch mit Nova gesprochen.

Mit Nova, Kelinda, Daria, Thorin, Lyndor ...

Die nun alle tot waren, ermordet von den Cherubim und untergegangen mit der Aetheria, vermutlich im Meer versunken und von Fischen gefressen.

Schnell verscheuchte ich die düsteren Gedanken.

„Ähm, und was bedeutet dein Name?", fragte ich Kira.

„Sonne." Sie grinste. „Er kommt aus Solhart. Wie ich. Hast du alles, was du brauchst? Dann sollten wir nun gehen, die Arbeit wartet auf uns."

„Warte kurz", sagte ich. Ich hastete zurück zu meinem Bett und nahm meine Sachen vom Nachttisch: Das Bild meiner Eltern und meine Schneekugel, die Dinge, die ich in letzter Sekunde vom Schiff gerettet hatte. „Nun können wir", sagte ich und drückte meine wenigen Habseligkeiten an mich.

Dann folgte ich Kira aus Cassiels Gemach, und zum ersten Mal an diesem Morgen trat die Angst in den Hintergrund. Mit einem Mal war ich aufgeregt und spürte fast so etwas wie Vorfreude, weil ich wusste, dass ich diesen Flügel nun endlich verlassen und den Rest des Palasts sehen konnte.

Amid the Spring Forest [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt