Ich überlegte nicht lange und nahm die Verfolgung auf. Mein Herz raste. Ich durfte das Geld nicht verlieren, auf gar keinen Fall. Wenn wir kein Essen würden zubereiten können und ich zugeben musste, dass ich mir das Geld habe stehlen lassen, würde das schreckliche Konsequenzen nach sich ziehen, das wusste ich. Nicht nur für mich, sondern für uns alle.
Und so rannte ich dem Dieb hinterher. Ich sprintete über einen am Boden stehenden Eimer, wich anderen Menschen aus, schlug Haken und duckte mich unter einem winzigen Tor hindurch, von dem ich mir eine Abkürzung versprach.
Und ich hatte Glück. Nur wenige Minuten später hatte ich den Jungen eingeholt. Ich packte ihn wütend an der Schulter und wirbelte ihn herum. Seine Augen waren vor Schreck weit aufgerissen, als er mich sah, seine Schultern sackten nach vorne und ich erschrak. Er war weit jünger, als ich zunächst gedacht hatte; vielleicht zwölf. Und erschreckend abgemagert, noch mehr als ich.
Ich schluckte. „Gib mir meine Tasche zurück", sagte ich, doch meine Stimme klang nicht so fest, wie sie sein sollte.
Dennoch hörte er auf mich, zerknirscht gab er sie mir wieder. Ich warf einen schnellen Blick hinein und überschlug die Sterntaler, um herauszufinden, ob etwas fehlte, doch es schien noch alles da zu sein.
Dann wandte ich mich wieder dem Jungen zu. „Tu das nie wieder!", fauchte ich. Mein Puls raste noch immer.
Er nickte nur, dann trottete er mit hängenden Schultern davon. Ohne dass ich es wollte, überkam mich eine Woge des Mitgefühls und ich sprintete ihm hinterher.
„Warte", rief ich. Er blieb stehen, drehte sich jedoch nicht zu mir um. Ich kam um ihn herum.
„Was tust du hier?", fragte ich. „Lebst du hier? Im Opalgrund?"
Argwöhnisch betrachtete er mich. „Nein?", sagte er, was allerdings mehr wie eine Frage klang. Er sagte es langgezogen, als wäre er nicht ganz sicher, ob ich ihn veralbern wollte. Ich schluckte und sah mich nach links und rechts um, unsicher, wie ich mich verhalten und ob ich zugeben sollte, dass ich keine Ahnung hatte. Um uns herum herrschte geschäftiges Treiben, doch keiner nahm Notiz von mir und dem Jungen.
„Und wo wohnst du dann?", fragte ich schließlich.
„Im Windbruch?" Wieder klang es wie eine Frage. Er runzelte die Stirn. „Wo wohnst du denn?"
„Ich ... ich bin neu hier", sagte ich ausweichend. Seine Augen wurden riesengroß, sein Mund formte ein erstauntes O.
„Warte mal", sagte er. „Bist du ... bist du etwa ein Mensch?"
„Du etwa nicht?", entgegnete ich, dabei war mir bei der Art und Weise, wie er seine Frage gestellt hatte, schon klar, dass das nicht sein konnte. Doch wenn er kein Mensch war – was war er denn dann? Nach einem Seraph oder Cherub sah er nicht aus.
„Junge Dame, Sie sehen aus, als hätten Sie Interesse an einem magischen Artefakt", hörte ich mit einem Mal eine Stimme hinter mir. „Oder wie wäre es mit einer Sternkarte? Ich könnte Ihnen auch aus der Handfläche lesen und Ihnen die Zukunft voraussagen."
Ich wirbelte herum und blickte ins freundlich lächelnde Gesicht eines Mannes, der zwei Köpfe kleiner war als ich und einen riesigen Zylinder auf dem Kopf trug. Er war in ein schillerndes dunkelblaues Gewand gehüllt, auf dem dutzende von silbernen Sternen aufgenäht waren, doch auch die Menge an Stoff konnte nicht verbergen, dass er, wie alle anderen hier, unfassbar dünn und abgemagert war. Der Stoff schlackerte um seine kurzen Beine und wurde an der Taille mit einem braunen Strick zusammengehalten.
„Nein, danke", sagte ich, woraufhin ihm das Lächeln aus dem Gesicht fiel. Sein Mund verzog sich zu einer schrecklichen Fratze und er fing an, die wüstesten Beschimpfungen auf mich loszulassen. Gleichzeitig hob er wütend seine Fäuste und kam auf mich zu. Erschrocken wich ich einen Schritt zurück.
„Verschwinde, Sternengaukler, sonst muss ich meinen Hund auf dich hetzen", sagte jemand neben mir. Als mein Blick zur Seite flog, sah ich einen Jungen, der etwa mein Alter haben musste. Er hatte schmutzig-blondes Haar, das ihm störrisch in alle möglichen Himmelsrichtungen stand, und abgetragene braune Leinenklamotten am Leib. Erneut fragte ich mich, was das hier für Wesen waren. Kein Seraph würde sich jemals in solchen Lumpen sehen lassen.
Der kleine Mann mit dem Zylinder zog ab und der Junge grinste mich an.
„Die musst du sofort abwimmeln, sonst hast du keine Chance", informierte er mich. „Die sind verdammt hartnäckig!"
„Danke für deine Hilfe", stammelte ich. Ich presste meine Tasche fest an meine Brust, nur für den Fall, dass auch er gekommen war, um sie mir zu stehlen, doch er lachte nur.
„Du bist zum ersten Mal hier, oder? Kommst du aus dem Palast?"
„Woher weißt du das?", fragte ich überrascht.
„Ist nicht zu übersehen." Er grinste. „Selbst die Leute aus dem Windbruch haben bessere Kleidung als ihr. Ich beneide euch nicht. Komm mit."
Irritiert folgte ich ihm, nicht jedoch, ohne mich ein wenig zu schämen. Er hatte recht, ich sah furchtbar aus. Meine Wunden waren inzwischen verheilt und ich hatte es sogar geschafft, wieder zwei Kilogramm zuzunehmen, aber der Rest war eine einzige Katastrophe. Caelira hatte mir vor Cassiels Schutzzauber massenhaft Haare ausgerissen, die erst langsam wieder nachwuchsen, außerdem hatte sie mir den Rest auf Kinnlänge abgesäbelt, sodass ich eine Frisur wie ein gerupftes Huhn hatte. Den Stoff meiner Röcke hatte sie außerdem derart zerfetzt, dass selbst Kira nicht mehr viel hatte retten können, und nun war ich wirklich in die reinsten Lumpen gekleidet.
„Wo gehst du hin?", fragte ich atemlos.
„Wo wohl? Ich zeige dir, wo du deine Sachen günstig kriegst. Keine Sorge, bei mir bist du in guten Händen. Ich habe Kira auch immer geholfen, nur der anderen nicht, dieser unfreundlichen Frau mit dem bösen Blick."
„Du meinst Herma?"
„Genau."
„Die ist nicht mehr da", sagte ich, während ich mich bemühte, mit ihm Schritt zu halten. Wir schlängelten uns an mehreren Ständen vorbei, durch Menschenmassen hindurch, bis wir schließlich vor einem unscheinbaren kleinen Stand mit allerhand Obst und Gemüse stehenblieben.
„Den Himmeln sei Dank", entgegnete er nur. „Die war schrecklich. Warum ist Kira heute nicht gekommen?"
„Sie hat im Palast zu tun", sagte ich.
„Schade. Sag ihr einen schönen Gruß von Jemue."
„Jemue?"
„Ja. Und wer bist du?"
„Ich heiße Lumi", stellte ich mich vor.
„Freut mich, dich kennenzulernen, Lumi", sagte er und reichte mir fast feierlich die Hand, was mich zum Lachen brachte. „Herzlich willkommen auf dem Markt der Nephilim."
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Amid the Spring Forest [Dark Romantasy]
FantasiLUMI & CASS Teil 2 ACHTUNG! TEIL 2 VON „ABOVE THE WINTER SKIES". KLAPPENTEXT ENTHÄLT SPOILER FÜR DEN ERSTEN TEIL. ~~~ Es heißt, erst dann, wenn man alles verloren hat, hätte man die Freiheit alles zu tun - und dass auf jeden Verlust etwas Größeres...