Natürlich tat ich nichts dergleichen. Ich konnte meine Freundinnen nicht im Stich lassen, außerdem ging es mir inzwischen wieder besser. Ich war geschützt, hatte Freunde und einen Schlafplatz, und Caelira ließ mich in Ruhe. Nein, ich würde warten bis Cassiel aus Irdysia zurückkam und dann gemeinsam mit ihm nach einer Lösung suchen. Davon abgesehen: Wo hätte ich in Lysandra als Mensch auch hingehen sollen? Ich war hier nicht erwünscht, das war spätestens seit dem Referendum und den neuen Gesetzen klar. Cassiels Schutz hin oder her, auf den Straßen war es für Menschen gefährlich und es gab keinen Ort, an dem ich Obdach hätte finden können. Allein die Vorstellung war absurd.
Und so machte ich mich wie vereinbart auf den Weg zum Markt und sog dabei die vielfältigen Eindrücke in mich auf, die in dieser wunderschönen fremdartigen Stadt auf mich einströmten – allen voran der Geruch des frischen Morgens. Sobald ich den Hinterhof verlassen hatte und auf der Straße vor dem Palast stand, atmete ich tief durch, als hätte ich seit Monaten nicht richtig atmen können. Der Duft nach Lorbeer hing in der Luft, allgegenwärtig und gepaart mit einer frischen, metallischen Note, die ich nicht zuordnen konnte. Alles hier war fremd, nicht nur die polierten, marmornen Straßen, die im Licht der aufgehenden Sonne glänzten, als wären sie erst gerade eben geputzt und gewienert worden, vor allem auch die Gerüche und Geräusche, die mich umgaben.
Zuhause war es immer laut gewesen. Menschen riefen durch die Stadt, Wagenräder klapperten über das grobe Kopfsteinpflaster, Hunde bellten und Handwerker verrichteten lautstark ihre Arbeit.
Hier hingegen herrschte trotz der Größe Lysandras eine fast gespenstische Stille, nur durchbrochen vom lauten Flügelschlag der Seraphim, die weit über mir ihre Kreise zogen, und dem Zwitschern zahlreicher Vögel. Vor allem aber war es die frische Luft, die mich befremdete.
Nach all der Zeit fühlte es sich eigenartig an. Natürlich hatte ich auf der Aetheria frische Luft bekommen, wir waren oft genug auf dem Sonnendeck gewesen. Und auch in Cassiels Gemächern im Palast waren oft genug die Fenster offen gewesen, doch die meiste Zeit hatte ich mich seit meinem Weggang aus Hjartvik in geschlossenen Räumen aufgehalten – im muffigen Keller und in den Gemächern der Seraphim, in denen immer die schwere Note des Weihauchs hing. Hinzu kam, dass ich sowohl im Palast als auch auf dem Schiff in gewisser Weise eingesperrt gewesen war. Nun spürte ich zum ersten Mal seit Monaten wieder die Freiheit, und das fühlte sich unglaublich gut an, auch wenn es eine trügerische Freiheit war.
Ich folgte Kiras Beschreibung, passierte einen riesigen plätschernden Brunnen und schritt schließlich durch das goldene Tor, das vom Vorhof des Palastes auf die Straße führte.
Ein Blick nach oben zeigte mir, was ich schon wusste: Die schmale Straße wurde von hohen, schimmernden Gebäuden gesäumt, zwischen denen sich weit über mir Brücken spannten. Viele der Häuser hatten Erker und Türme, deren goldene Kuppeldächer im Sonnenlicht glänzten. Jede Säule, jeder Fensterrahmen in diesem Viertel, war mit aufwändigen goldenen Gravuren verziert, und weit über allem schwebten hin und wieder Engel durch die Luft, die mir glücklicherweise jedoch keine Beachtung schenkten.
Alls hier strahlte Perfektion und Reinheit aus, und während ich die Straßen des Aureldoms entlangging, fühlte ich unwillkürlich so etwas wie Ehrfurcht, auch wenn meine Meinung über die Engel sich in den vergangenen Monaten drastisch geändert hatte.
Ich merkte aber auch, dass noch eine andere Empfindung hinzukam: Langeweile.
Es war zu perfekt. Fast leblos.
Dieser Eindruck änderte sich fast schlagartig, als ich in den Opalgrund einbog. Immer mehr Wesen bevölkerten die Straßen, und bei genauerem Hinsehen stellte ich fest, dass es keine Seraphim waren. Natürlich konnte ich das nicht mit Sicherheit sagen, denn die Engel konnten ihre Flügel verstecken, wenn sie sie nicht brauchten, aber die Wesen, die hier unterwegs waren, waren kleiner und weniger perfekt als die Seraphim, die ich bisher kennengelernt hatte. Die Engel, die ich bisher zu Gesicht bekommen hatte, waren allesamt groß, muskulös und unwirklich schön gewesen – die Wesen, die hier unterwegs waren, wirkten anders. Sie waren kleiner, dünner, hatten braunes, blondes oder gar ergrautes Haar ... Gingen teils aufrecht, teils leicht nach vorne gebeugt, hatten teils schlechte Haut und schlechte Zähne ... Sie waren kunterbunt und erschreckend normal.
Es befremdete mich, und dann wurde mir schlagartig klar, was es war, das mich so irritierte: Das hier mussten Menschen sein! Eine andere Erklärung gab es nicht.
Natürlich wusste ich, dass noch einige Menschen in Lysandra lebten, schließlich konnten sie trotz ihrer prekären Lage das Land nicht verlassen, aber hier waren ausschließlich Menschen – und zwar hunderte.
Nun erst fiel mir auch auf, dass die Gegend sich nach und nach veränderte. Was von Cassiels Zimmer aus so luxuriös gewirkt hatte, sah von hier unten ganz anders aus. Die opalfarbenen Häuser schimmerten weit weniger elegant, sondern wirkten eher schmutzig, das Weiß von braunen und grauen Schlieren durchzogen.
Der Boden war dreckig, die Straße an einigen Stellen aufgerissen. Unkraut wuchs in jedem Winkel, es wurde zunehmend lauter und selbst der Geruch veränderte sich, je weiter ich in den Opalgrund vordrang. Es roch nach Fisch und Fleisch, nach Holz, nach Erde und Schweiß. Kurz darauf hatte ich den Marktplatz schließlich erreicht, und dann wurde ich von dem Treiben dort förmlich erschlagen. Stand reihte sich an Stand, hunderte von Menschen waren hier unterwegs. Hunde und Hühner stromerten über den Platz, Kinder rannten durch die Gegend, es war laut und hektisch, wurde geschrien, gelacht und gehandelt.
Mit einem Mal fühlte ich mich fast schlagartig wieder nach Hause katapultiert, als wäre ich zurück in Hjartvik – einem alternativen Hjartvik, eins ohne Schnee und viel größer.
Vollkommen irritiert über diese Tatsache vergaß ich, auf meine Tasche richtig aufzupassen, und eine Sekunde später wurde sie mir von der Schulter gerissen.
„Hey!", stieß ich hervor. Ich wirbelte herum und konnte gerade noch einen Jungen sehen, nur ein paar Jahre jünger als ich, der sich den Riemen über die eigene Schulter warf und davonrannte. Er stürzte sich ins Getümmel und war nur Sekundenbruchteile später hinter einer Häuserecke verschwunden.
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Amid the Spring Forest [Dark Romantasy]
FantasyLUMI & CASS Teil 2 ACHTUNG! TEIL 2 VON „ABOVE THE WINTER SKIES". KLAPPENTEXT ENTHÄLT SPOILER FÜR DEN ERSTEN TEIL. ~~~ Es heißt, erst dann, wenn man alles verloren hat, hätte man die Freiheit alles zu tun - und dass auf jeden Verlust etwas Größeres...