Kapitel 50 - Gedanken eines Heilers

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Naoki stand allein auf dem kleinen Balkon, der zu ihrem Hotelzimmer gehörte. Er blickte hinaus auf die See und den sich dunkelnden Himmel. Nur noch wenige Sonnenstrahlen blieben übrig, doch das störte ihn nicht.

Wind liebkoste sein Gesicht, spielte mit seinen blonden Locken und brachte sie durcheinander. Er konnte ihn spüren. Nicht die Kälte, die er mit sich brachte, aber das Gefühl auf seinem Körper. Es fühlte sich so real an. Als wäre er wirklich hier. Aus Fleisch und Blut.

Genauso war es, wenn Yukine oder Kaito ihn berührten. Da war keine Wärme, aber die Erinnerung daran, wie es sich einst angefühlt hatte. So schön. So unglaublich vertraut. Haut auf Haut. Lippen auf Lippen. Sanfte Berührungen, zärtliche Liebkosungen.

Und obwohl Naoki es besser wusste, fühlte er sich in diesem Moment so unglaublich lebendig. Vor allem durch den Schmerz in seiner Brust, das Leid, das ihn plagte und die Erinnerungen an Vergangenes, die langsam immer präsenter wurden.

Nach seinem Tod hatte Naoki vieles vergessen, vielleicht auch verdrängt. Jedoch wurde ihm immer bewusster, was er Yukine in all den Monaten angetan hatte. Alles kam nach und nach wieder. Machte sich in seinem Kopf breit und vergiftete seinen Geist.

Wie hatte er solche Unwahrheiten, so verletzende noch dazu, an Yukine wenden können? Den Mann, den er über alles liebte und der alles für ihn getan hatte. Immer für ihn da gewesen war, selbst als Naoki sich längst aufgegeben hatte.

Die ganze Schuld hatte er seinem Partner gegeben. An der Schwangerschaft und dem Verlust ihres Kindes.
Ihm an den Kopf geworfen, dass der Wunsch eines gemeinsamen Kindes nur von Yukine selbst ausgegangen war und nie von ihm.

Er hatte so viel für Naoki getan, ohne jemals einen Dank zu bekommen oder auch nur zu verlangen. Egal wie viel Mühe der Heiler ihm bereitet hatte, Yukine hatte sich nicht beschwert. Hatte ihn umsorgt, sich um ihn gekümmert.

Und Naoki? Er hatte geschwiegen, ihn abgelehnt und vertrieben. Nicht einmal eines Blickes hatte er Yukine zum Schluss gewürdigt. Eigentlich sollte der Fae-Krieger ihn hassen, gar verachten und verabscheuen.

Wieso tat er es nicht? Stattdessen duldete er Naoki im Haus, ja sogar im Bett. Neben sich und Kaito. Als würde er dazugehören. So, als hätte er ihn nie wie das letzte behandelt. Und Naoki verstand das alles nicht.

Könnte es wirklich sein? Dass Yukine ihn nach wie vor liebte und ihm all das verzeihen wollte oder gar konnte? Wie, wenn Naoki es selbst nicht hinbekam?! Das war so absurd. Unlogisch. Unmöglich! Und es machte ihn so unfassbar wütend.

»Naoki, was machst du denn hier?«
Hinter ihm war das Licht angegangen. Er hatte es nicht bemerkt, da die Vorhänge zugezogen waren. Doch jetzt, da er Kaitos Stimme hörte, realisierte Naoki, dass er nicht mehr allein mit seinen Gedanken war.

Er drehte den Kopf, sodass er Kaito aus dem Augenwinkel sehen konnte. Ein Lächeln zierte das mittlerweile so bekannte Gesicht. »Warst du die ganze Zeit hier?«, fragte Kaito, nachdem er nach draußen getreten war. »Ziemlich frisch geworden.« Der Halbfae schüttelte sich, flüchtete jedoch nicht direkt wieder ins Innere.

»Ja«, entgegnete Naoki nur. Eine Antwort auf alles und nichts. Doch das schien Kaito nicht zu stören.
»Ich habe mich schon gefragt, wo du hin bist, nachdem du vorhin einfach verschwunden bist.« Naokis Blick huschte noch einmal in das vom Licht durchflutete Schlafzimmer, in dem er Yukine erwartet hatte. Jedoch war der Fae-Krieger nicht da.

»Tut mir leid. Es war seltsam, Ilona nach so vielen Jahren zu sehen, sich ihr jedoch nicht mitteilen zu können«, gestand er betrübt. Ja, eigentlich hatte er sich darauf gefreut, mit Yukine und Kaito zusammen zu gehen, alten Freunden wieder zu begegnen.

Nur war ihm ein ums andere Mal bewusst geworden, dass ihn nur diese beiden Männer sehen konnten.
»Niemand macht dir deshalb Vorurteile«, versicherte Kaito ihm. Er legte einen Arm um Naoki und zog ihn noch etwas näher an seinen Körper.

Der einstige Heiler schaute zunächst verwirrt zu ihm auf, lehnte jedoch wenig später den Kopf an Kaito. »Besorgt waren wir dennoch ein bisschen.«
»Entschuldigt«, entgegnete Naoki mit einem Seufzen. Er schmiegte sich noch enger an den rothaarigen Halbfae. Sein erdig-warmer, ein wenig nach Holz duftender Geruch hüllte Naoki ein.

Kaitos Nähe beruhigte seine wirren Gedanken. Seine Wärme, sein Duft. Naoki war schon so daran gewöhnt. Er hatte diesen Mann wirklich liebgewonnen. Kaum zu glauben, wo es doch der neue Partner seines Geliebten war. »Wo ist Yukine?«

»Ach, er wollte noch etwas am Strand bleiben. Mir ist das aber zu kalt geworden.« Kaito schüttelte sich, als der Wind für einen Moment über den Balkon hinwegfegte. Jetzt erst bemerkte Naoki, dass Kaito sich etwas übergeworfen hatte, um nicht zu frieren. »Willst du zu ihm? Vielleicht wäre deine Anwesenheit gerade das richtige für ihn.«

»Ich weiß nicht, ob er mich wirklich in seiner Nähe haben will.« Kaito drückte ihn noch einmal, bevor er die Umarmung löste. Seine grünen Augen schauten Naoki sanft an. Er lächelte.
»Daran habe ich gar keine Zweifel. Also los, geh zu Yukine und hole ihn her. Ich muss unter die Dusche«, antwortete Kaito ihm.

Für einen Moment sah Naoki ihn nur an. Betrachtete Kaitos Gesicht, seine unscheinbaren Muttermale, das glühend rote Haar. Dann nickte er entschlossen.
»Ich bringe ihn heim«, antwortete der ehemalige Fae-Heiler, woraufhin Kaito zurücktrat.
»Dann bis später. Lasst euch Zeit, solltet ihr sie brauchen.«

Der Halbfae trat wieder ins Innere, verschloss die Balkontür – nicht ohne Naoki noch einmal liebevoll anzusehen – und zog den Vorhang zu. Er selbst blieb noch einen Moment da, schaute auf das Glas der Tür, zögerte ein wenig. Kurz danach löste er sich auf. Und als er das nächste Mal die Augen öffnete, erblickte er Yukine auf einer Bank in der Nähe des Sees.

Sein Geliebter saß mit dem Rücken zu ihm, spärlich von einer Laterne beleuchtet. Ganz ruhig, ganz friedlich.
»Setz dich ruhig dazu«, hörte er den Fae sagen. Er hatte sich nicht umgewandt, schien dennoch zu wissen, dass Naoki anwesend war. »Na komm, hier ist genug Platz für uns beide.«

Ein Ruck ging durch Naokis Körper. Seine Beine bewegten sich von allein und ehe er sich versah, war er um die Bank gelaufen. Stand da, direkt vor Yukine, der nun den Kopf hob und die Augen auf ihn richtete. Das Gold in ihnen funkelte genauso wie Sterne über ihnen. Dann fiel Naoki ihm auch schon um den Hals, drückte sich an ihn. Das Gesicht in Yukines Halsbeuge.

Der Geruch seines Liebsten, so intensiv, so beruhigend. Dieselbe Wirkung wie immer.
»Ich bin froh, dass du hier bist, Naoki«, hauchte Yukine ihm ins Ohr. »Nicht nur jetzt.« Arme legten sich um seinen Körper, dann hörte er Yukine flüstern: »Ich liebe dich.«

Das war wirklich alles, was er gebraucht hatte. Eine Bestätigung, dass der Fae-Krieger ihn nach wie vor liebte. Wenn Naoki gekonnt hätte, hätte er vermutlich geweint. Vor Freude darüber.

Intertwined Souls | Unsere verwobenen Seelen ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt