Kapitel 47

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WAS? Kian wurde verletzt? Diese Gedanken schießen mir wieder durch den Kopf, die Panik breitet sich in mir aus. Dann auch noch schwer verletzt. Nicht, dass er mir noch wegstirbt. Oh Gott, bitte nicht. Und dann auch noch so im Streit, ich hatte nicht einmal die Möglichkeit, mich bei ihm zu entschuldigen. Die Reue in mir drückt schwer gegen meine Brust, als würde sie meine Luft abschnüren. Ich zittere leicht, als ich meinen nächsten Schritt überlege. Ich muss zu ihm, ich muss ihn sehen, mich entschuldigen. Sofort greife ich nach meinem Handy und tippe hastig: "In welchem Krankenhaus?"

"Charité" antwortet Meran, und es fühlt sich an, als würde meine Welt in dieser Antwort zusammenbrechen.  Ich antworte knapp: "Okay, komme."

Ich ziehe mir schnell eine Jogginghose und einen alten Pulli über. Es spielt keine Rolle, wie ich aussehe. Wichtig ist nur, dass ich ihn sehen kann. Die Fahrt zum Krankenhaus ist ein verschwommenes Chaos von Angst und Unsicherheit. Meine Gedanken rasen, und ich kann mich kaum beruhigen. Warum habe ich ihm nicht früher geschrieben? Warum habe ich gezögert? Was, wenn ich zu spät komme? Was, wenn... Nein, daran darf ich nicht denken. Nicht jetzt. Als ich das Krankenhaus erreiche, ist es kurz vor 22 Uhr.

Die Kälte der Nacht ist um mich herum, aber ich spüre sie kaum. Mein Blick ist starr auf den Eingang gerichtet, als ob ich nur noch diesen einen Schritt machen müsste, um Kian wieder nahe zu sein. Doch als ich vor der Tür stehe, halte ich inne. Mein Herz schlägt wild, und plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich reingehen kann. Soll ich wirklich reingehen? Zweifel überkommen mich, und für einen Moment fühle ich mich, als würde ich mich in der Dunkelheit verlieren. Aber dann denke ich an Kian, ich muss ihn einfach sehen. Ich kann es sonst nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, wenn ich nicht sehe, wie es ihm geht. Tief durchatmend, versuche ich, meine Angst zu verdrängen, und trete durch die großen Glastüren des Krankenhauses.

Drinnen ist es still, die gedämpften Lichter und der sterile Geruch geben dem Ganzen eine unheimliche Atmosphäre. Ich frage mich an der Rezeption durch, finde schließlich den richtigen Weg zu seinem Zimmer und stehe kurze Zeit später vor der Tür. Meine Hände zittern leicht, als ich die Klinke in die Hand nehme. Noch einmal zögere ich, meine Gedanken rasen. Was, wenn er nicht will, dass ich hier bin?

Doch der Drang, ihn zu sehen, ist stärker. Ich drücke die Türklinke leise herunter und schiebe die Tür vorsichtig auf. Das Zimmer ist still, nur das rhythmische Piepen der Maschinen und das leise Summen der Beleuchtung sind zu hören. Meran ist nicht da. Ein kurzes Gefühl der Erleichterung überkommt mich. Vielleicht ist es besser, dass ich allein bin. Ich brauche diesen Moment nur für uns. Vorsichtig trete ich näher, jeder Schritt fühlt sich schwerer an als der letzte. Mein Atem geht leise und flach, während ich mich an die Bettkante stelle.

Ich blicke auf ihn hinunter, die Schuldgefühle überwältigen mich. "Es tut mir so leid," flüstere ich, meine Stimme kaum hörbar, als ob ich Angst hätte, ihn zu wecken. "So verdammt leid, dass ich den Brief von deiner Mutter gelesen habe." Ich merke, wie sich meine Stimme bricht, und ich schlucke schwer, um nicht in Tränen auszubrechen. "Wirklich, ich wollte es eigentlich nicht. Das schwöre ich dir." Meine Hand zittert leicht, als ich sie an meine Brust drücke, den Schmerz in meinem Herzen irgendwie versuchend zu lindern. "Ich wollte doch nur mehr über dich erfahren. Hätte ich gewusst, dass du irgendwann so im Krankenhaus landen wirst, würde ich dich nicht so unfair behandelt haben."

Meine Worte hallen in der Stille des Zimmers nach, und ich fühle, wie die Reue immer schwerer auf mir lastet. Es war nicht nur der Brief. Es war alles, was ich getan habe, jede unausgesprochene Schuld, die ich ihm gegenüber hegte, und all die Missverständnisse, die ich nicht aus dem Weg geräumt habe. "Ich meine es ernst," flüstere ich erneut, dieses Mal mit einer Spur Verzweiflung in meiner Stimme. Warum habe ich das getan? Warum habe ich mich von meinen Ängsten und Unsicherheiten leiten lassen? Es gibt so vieles, was ich ihm sagen will, doch die Worte bleiben mir im Hals stecken. Was, wenn er mir nicht verzeihen kann? Was, wenn er mich nie wieder sehen will? Meine Gedanken rasen weiter, während ich da stehe, unfähig, mich von diesem Anblick loszureißen. Es ist, als ob die Zeit stillsteht, nur wir beide existieren in diesem Moment, in dieser kleinen Blase von Stille und Schmerz.

Pflicht und SehnsuchtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt