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Wie versprochen schickt mir am Sonntagmorgen der Bürgermeister die Adresse der Praxis. Somit startet unweigerlich der Countdown, bis ich zum ersten Mal einen Fuß in die Praxis setzen werde, die ich ab sofort leite. In der Mail steht auch, dass eine Sprechstundenhilfe namens Patricia Hofer vor Ort sein wird, um mir alles Nötige zu zeigen. Ich bedanke mich noch für die Informationen, wünsche Herrn Maisch einen schönen Sonntag, dann klappe ich meinen Laptop zu. Ich spüre, wie die Aufregung meinen Herzschlag in die Höhe treibt. Natürlich habe ich während meiner Facharztausbildung bereits im Klinikum gearbeitet, aber nun wird es etwas vollkommen anderes sein. Ich bin auf mich alleingestellt und muss erst ein Netzwerk aus Kollegen zusammenstellen, die mir mit Rat zur Seite stehen, wenn ich einmal nicht mehr weiter weiß. In der Klinik hat man die leitenden Ärzte über sich gehabt und an deren Spitze der Chefarzt, der schützend seine Hand über uns gehalten hat. Ich versuche, mich zu beruhigen, atme mehrmals tief durch und versuche mir einzureden, dass es toll wird.

An diesem Morgen begrüßt mich ein dichter Nebel, als ich auf den Balkon trete. Die Luft ist frisch und klar. Mein warmer Atem kondensiert in der Luft und steigt in weißem Dampf auf. Durch den Wetterbericht weiß ich, dass die letzten schönen Tage nahen und dann wohl endgültig der Herbst Einzug halten wird. Meine liebste Jahreszeit. Schon jetzt kann ich es kaum erwarten, bei dieser Aussicht auf der Couch zu liegen, die Seele baumeln zu lassen, Tee zu trinken und dem Regen dabei zusehen, wie er gegen meine Fensterscheibe trommelt. Ich bin ein starker Verfechter des Zitates, ‚es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung' und nehme mir vor, an diesem Tag meinen Plan, wandern zu gehen, in die Tat umzusetzen. Das Wetter wirkt wenig einladend, aber ich gebe dem inneren Drang nach, die Gegend erkunden zu wollen, und ziehe mich an.

Ich stehe in einer Jeans, einem dunkelblauen Sweatshirt und dicken Wollsocken vor dem Badezimmerspiegel und flechte meine rot-blonden Haare zu einem Zopf, der mir über die rechte Schulter fällt. Auf dem Weg in den Flur greife ich nach meiner quietschgelben Regenjacke, die ich mir einmal notgedrungen bei einem Wochenendtrip nach Hamburg kaufen musste und die mir seitdem treue Dienste leistet. Ich schlüpfe hinein und genau so leicht, wie die Auswahl meines Outfits, fällt mir die Wahl meiner Schuhe. Ich schlüpfe in ein paar Turnschuhe, die ihre beste Zeit bereits hinter sich haben, aber ich weiß, dass ich weniger traurig sein werden, wenn sie mit Matsch in Berührung kommen sollten als meine neuen schneeweißen Sneaker.

In einem Rucksack nehme ich eine Flasche Wasser und einen Apfel mit und so mache ich mich auf den Weg zu der Wanderroute, die ich mir zuvor raus gesucht habe. Sie beginnt unweit des Hauses, in dem ich lebe, und führt wohl zu einer kleinen Alm.

Das triste Grau hält weiter an, aber umso strahlender wirken die Blätter der Bäume, die links und rechts den Pfad säumen, den ich durchquere. Die unterschiedlichen Abstufungen von Rot- und Gelbtönen ließen die Baumkronen aussehen, als stünden sie in Flammen. Ein weiteres Indiz dafür, dass der Herbst unmittelbar bevorstand. Einige Blätter waren zu Boden gesunken und bedeckten diesen. Obwohl der Nebel auch hier aufgezogen ist und über den Boden wabert, rascheln die Blätter unter jedem meiner Schritte. Ein wundervolles Geräusch, das ich mit einer gewissen Gemütlichkeit verbinde. Ich überquere kleine Bachläufe, die sich in dieser Kulisse, die einem verwunschenen Wald ähnelt, entlangschlängeln. Immer weiter laufe ich den Weg entlang, bis ich an einer Lichtung ankommen. Obwohl es bewölkt ist, strahlen das Grün der Wiese und die letzten blühenden Köpfe von zahlreichen Wildblumen um die Wette und recken ihre Köpfe dem Himmel entgegen, in der Hoffnung etwas Sonne erhaschen zu können, die sich an diesem Tag noch nicht einmal gezeigt hat. Ich trinke einen Schluck und machen ein Foto der Umgebung, dann laufe ich weiter. Immer weiter bergauf den Pfad entlang der mitten durch diese Lichtung führt. Der Himmel verdunkelt sich mit einem Mal und ich bleibe kurz stehen und sehe mich um. Ich habe schon davon gehört, dass sich das Wetter in den Bergen schlagartig ändern kann und der Himmel über mir verdunkelt sich immer mehr, während die Wolken schnell vorüber ziehen und das Unwetter mit sich zu bringen scheinen.
Ich beschleunige meine Schritte, die bergauf recht anstrengend sind. Mein Atem beschleunigt sich und kleine Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn, obwohl der aufkommende Wind recht frisch ist. Ich spüre, wie die Anstrengung meinen Puls in die Höhe schießen lässt, laufe aber tapfer weiter. Laut der Wanderkarte die ich als Screenshot gespeichert habe, dürfte es nicht mehr weit bis zur Hütte sein, denn umkehren war keine Option. Für den Weg zurück würde ich wesentlich länger brauchen als für den weiteren Aufstieg.
Der Weg wurde steiler und schmaler und unter den dünn gewordenen Sohlen meiner Schuhe spüre ich jeden noch so kleinen Stein und wie der Druck Blasen mit sich bringt. Meine Waden brennen, meine Füße Schmerzen und gerade als ich kurz anhalte, um einen Schluck zu trinken, beginnen dicke Tropfen auf die Erde zu prasseln, die in einem Platzregen übergehen. Es dauert nur Sekunden und ich bin so durchweicht, dass nicht einmal mehr meine Regenjacke hilft, die wohl der einzige Farbtupfer in der Umgebung ist.

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