»Und du meldest dich, wenn du angekommen bist, ja?« Mein Vater hat seine Arme um mich gelegt, als wir an meinem Wagen stehen.
Mo, dem Abschiede genau so schwerfallen wie mir, steht mit gesenktem Kopf neben ihm. Sein Blick ist auf einen Stein gerichtet, den er mit der Spitze seines Schuhs hin und her schiebt.
»Phie, kommt bald wieder?« Fragt er mit belegter Stimme und ich löse mich von ihm.
»Ich komme bald wieder, versprochen, aber ich muss morgen wieder arbeiten, deshalb kann ich nicht länger bleiben. Ich würde gerne, das kannst du mir glauben. Aber ich kann nicht.« Während ich rede und nun meinen Bruder in die Arme geschlossen habe, höre ich mir selbst dabei zu, wie meine Stimme mit jedem Wort brüchiger wird.
»Ich hab dich unendlich doll lieb, Großer«, ich drücke ihn noch immer an mich und spüre, wie er die Umarmung fester werden lässt.
»Hab Phie auch lieb«, antwortet er leise. Als ich mich von ihm löse, wischt er mit dem Ärmel über seine Augen und kann die Tränen nicht zurückhalten. Es zerreißt mich, aber ich muss gehen, es geht nicht anders. Ein letztes Mal winke ich ihnen zu und steige in meinen Wagen, starte den Motor und der Wagen setzt sich in Bewegung.
Mo und mein Vater stehen vor dem Haus und winken mir nach, als ich mich immer weiter von ihnen entferne. Im Seitenspiegel meines Wagens werden sie immer kleiner und schließlich biege ich ab und sie sind aus meiner Sicht verschwunden.
Sie fehlen mir schon jetzt und ich nehme mir vor, so oft ich kann zu ihnen zu fahren. Doch auch Nessi und Becca möchte ich so gerne besuchen und innerlich fluche ich darüber, wie limitiert die Zeit ist, die sich Freizeit nennt. Zumal es auch keine Strecke ist, die man mal eben so fährt. Schon das Wochenende bei meinem Vater und Mo war viel zu kurz und ich wäre gerne länger bei ihnen geblieben.
Die Autobahnen sind frei und die Sonne strahlt am Himmel, wie ein kompletter Kontrast zu dem was ich fühle. Immer wieder schluchze ich auf und das Heimweh gräbt sich tief in mein Herz, bis meine Brust schmerzt und einen stechenden Schmerz in meinen Hals aussendet, der sich dort wie ein Kloß niederlässt.
Ich rede mir immer wieder ein, dass ich es mir ja selbst ausgesucht habe, aber trotzdem kann ich mich nicht wirklich beruhigen. Mir fehlt mein Vater, mir fehlt Mo. Mir fehlen meine Mädels.
Ich lege immer wieder Pausen ein und besorge mir an den Raststätten Kaffee, den ich dann während der Weiterfahrt trinke. Erst gegen Nachmittag komme ich wieder in Niederelgbach an. Rosel ist im Vorgarten und zupft das Unkraut aus den Blumenbeeten, die den Schotterweg zur Haustüre flankieren.
Die Rosen strahlen förmlich im Licht der Sonne in einem hellen Gelb, einem zarten Rosa und einem kräftigen Weiß. Es sieht hübsch aus, wie der Efeu auf dem Boden rankt und die Rosenstöcke und den Lavendel einfasst. Und doch erinnert das herabfallende Laub der Bäume, das dies nur ein goldener Herbsttag ist und die letzten Knospen in wenigen Tagen verblüht sein werden.
Überhaupt achtet Rosel sehr auf den Garten, wie ich feststellen muss. In gefühlt jeder freien Minute ist sie im Garten und findet immer etwas zutun.
»Grüß dich Sophie«, begrüßt sie mich, während ich mich mit geschulterter Reisetasche auf den Eingangsbereich des Hauses zubewege.
»Hallo Rosel«, gebe ich freundlich zurück und betrachte die Rosen, »Die sehen wirklich toll aus.«
»Ja, dieses Jahr sind sie besonders schön. Zu schade das sie bald dem trüben Wetter weihen werden, dabei ist es so ein schöner Farbtupfer. Wie war dein Wochenende?«
»Es war toll, kurz aber toll. Mein Bruder hat sich über sein Geschenk sehr gefreut.«
»Oh, er hatte Geburtstag, wie schön.« Rosel erhob sich von dem Kissen, dass sie sich unter ihre Knie gelegt hat, und streckt sich ausgiebig. Offenbar hat sie schon lange Zeit auf dem Boden verbracht, so das ihre Glieder steif geworden sind. So ist es meistens bei so einer eintönigen Arbeit.
»Ja, er ist 35 geworden«, berichte ich und stelle die Tasche zu meinen Füßen ab, da ich bemerkte, dass diese Unterhaltung wohl etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen wird.
»Sollten dein Vater oder dein Bruder, dich mal besuchen wollen, hier im Haus gibt es noch ein kleines Einzimmer Apartment.« Bietet sie an und es klingt verlockend.
»Das wäre wirklich schön, wenn sie es nutzen dürfen. Ich biete es meinem Vater mal an, wenn du es erlaubst.«
»Natürlich, sonst hätte ich es doch nicht gesagt«, sie lächelt freundlich und ich nehme wieder meine Reisetasche, die ich schultere.
»Ich habe noch Linseneintopf übrig, dein Kühlschrank wird sicher leer sein. Warte ich hole dir etwas.«
Eh ich etwas sagen kann, verschwindet Rosel im Inneren des Hauses und in ihrer Wohnung. Ich folge langsam und bleibe in der Wohnungstüre stehen. Sie kommt wieder mit einer Plastikschüssel und drückt, während sie läuft, den Deckel fest.
»Dann hast du heute Abend etwas zu essen, nach der langen Fahrt«, sie überreicht mir die Schüssel, die ich dankend annehme.
»Vielen Dank«, sage ich noch und mache mich auf den Weg in meine Wohnung.
Ich packe meine Tasche aus, nachdem ich die Schüssel erst einmal im Kühlschrank abgestellt habe, in dem tatsächlich gähnende Leere herrscht. Rosel hat scheinbar ein Näschen dafür und ich lächele, als ich an ihre mütterliche Art denke.
Sie ist wirklich ein herzensguter Mensch und ich frage mich, wie ich ihr das zurückgeben kann, oder besser gesagt, wie ich ihr überhaupt etwas zurückgeben kann. Sie war der erste Mensch, dem ich in Niederelgbach begegnet bin, und sie hat mich herzlich aufgenommen und dafür gesorgt, das ich mich hier wohlfühlen kann. Schön alleine dafür werde ich ihr ewig dankbar sein.
Ich schreibe meinem Vater eine kurze Nachricht, dass ich angekommen bin, und ziehe mich mit einem Kaffee auf die Couch zurück und genieße die Ruhe, die sich in diesem Moment weniger wie Einsamkeit anfühlt. Ich merke vielmehr, wie ich zur Ruhe komme.
Natürlich ist mein Heimweh nicht gänzlich verschwunden, aber es ist erträglicher, als noch wenige Stunden zuvor, als ich dabei zusehen konnte wie mein Bruder und mein Vater im Seitenspiegel immer kleiner werden. Obwohl ich schon seit elf Jahren nicht mehr zuhause wohne, fällt mir der Abschied jedes Mal schwer und es hinterlässt eine Sehnsucht, die ich kaum für möglich halte. Und gleichzeitig wirft dieses Gefühl, dass sich dann breitmacht, Fragen auf. Fragen wie: Wo bin ich zuhause? Was ist Heimat? Wo fühle ich mich zuhause?
Es sind Fragen, auf die ich seit elf Jahren keine Antwort finde, denn bisher habe ich mein Zuhause und meine Heimat über meinen Vater und meinen Bruder definiert. Aber vielleicht hindert genau das mich daran, mich woanders zuhause zu fühlen und glücklich zu sein.
Manchmal fühle ich mich wie auf einer ständigen Reise, ohne Ziel. Wo will ich hin? Was ist überhaupt mein Ziel? Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Noch nicht. Aber vielleicht werde ich die Antworten irgendwann bekommen.
Bis dahin werde ich geduldig warten.
Gegen Abend mache ich mir den Eintopf warm. Der Duft, den er verbreitet, erinnert mich an Kindheit und genau so schmeckt es auch, als ich davon koste.
Es schmeckt wie der Eintopf, den meine Oma früher gekocht hat. Mit der Schüssel ziehe ich mich auf die Couch zurück und genieße Löffel für Löffel, während sich draußen das Wetter gewechselt hat. Die Tage werden wieder kürzer und die Sonne ist bereits untergegangen, als der Himmel sich einmal mehr verdunkelt und es zu regnen beginnt. Der Wind sorgt dafür, dass die Regentropfen gegen meine Scheibe geweht werden. Die kleinen Rinnsale fließen herab und reißen weitere Tropfen mit sich und ich sehe ihnen dabei zu, wie sie sich wie ein Labyrinth den Weg über die Scheibe bahnen. Es hat etwas beruhigendes und während ich mich darauf konzentriere schweigen meine Gedanken, die immer wieder zu meinen Mädels, meinen Vater und Mo abschweifen.
Genau so definiere ich Gemütlichkeit. Draußen tobt ein Mistwetter und man selbst sitzt geschützt und behaglich in seinen vier Wänden, mit einem Stück Kindheit in der Hand. Löffel für Löffel lasse ich mir schmecken und sehe dem Regen dabei zu, wie er auf die Erde fällt und lausche dem prasselnden Geräusch.

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Stadt Land Liebe
Storie d'amoreUm ihr Medizinstudium zu finanzieren, hat sich Sophie als Landärztin verpflichtet. Als es an der Zeit, ihren Teil des Vertrages zu erfüllen, verschlägt es sie von Köln in das kleine verschlafene Städtchen Niederelgbach im Allgäu. Inmitten dieser tra...