Der Ort des Geschehens

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Es war sicherlich nicht die feine englische Art, meine Familie warten zu lassen. Aber sie gaben mir keine andere Möglichkeit. Eigentlich wollte ich nicht mehr wirklich gefragt, was ich gerne will. Nur was sie wollten, war klar. Sie wollten nach Hause. Mit mir. Aber ich konnte nicht einfach gehen, ohne mich zu verabschieden. Es wäre, als wäre ich nie Teil des Ganzen gewesen. Und nachdem ich mag sicherlich schon so manche schlaflose Nacht beschert hatte - ich dachte da nicht primär an die Coachings, nicht in den gestrigen Vorfall - musste ich ihn noch ein letztes Mal in die Augen sehen und ihm sagen, dass es mir unfassbar leid tat. Aber er hatte noch so viele Talente, er konnte gewinnen. Dazu brauchte er mich nicht. Vanessa hätte ich eventuell schlagen können, aber danach wäre ich sicherlich sowieso nach Hause gefahren. Tim führte mich zu seinem Auto und hielt mir sogar die Beifahrertür auf, damit ich einsteigen konnte. Wie ein Gentleman, der mich gerade zu einem Date abholte. Ich schüttelte mich kurz. Diese Gedanken mussten sofort aus meinem Kopf. Denn auch ihm werde ich lebe wohl sagen müssen. Und das verdrängte ich. Es war still, zwischen uns beiden. Ich beobachtete Tim im Auto fahren. Ich sah ihn an und ich lächelte. Er gab mir eine gewisse Ruhe. Ich fühlte mich wohl.
„Aufgeregt?", fragte er.
„Eher traurig", gestand ich.
„Dass du dich verabschieden musst?"
„Ja...wenn die Dinge anders gelaufen wären, ich meine, wenn alles seinen gewohnten Weg gegangen wäre, dann wäre ich jetzt noch hier und dann wäre mein größtes Problem, wie ich die Battles zu überstehen sollte vor Aufregung."
Tim lachte kurz.
„Ihr seid so gut vorbereitet, darüber hättest du dir keine Sorgen machen müssen! Und hey, wenn du nicht gehen willst, dann bleib!"
Ich seufzte. Gestern Abend noch wollte ich unbedingt nach Hause. Ganz weit weg von der ekelhaften Produktion, der mein Leben so viel weniger wert war als Tims. Das nagte wahrscheinlich am meisten an mir. Ich hatte das Gefühl, ihnen wäre es völlig egal gewesen, wenn ich gestern gestorben wäre. Und von so einer Produktion kann ich doch kein Teil mehr sein!
„Das geht nicht. Es ist zu viel passiert."
Tim fuhr auf das Studio-Gelände. Überall lief Security herum. Viel mehr als noch die Tage zuvor. Manche von ihnen waren bewaffnet. Tim musste seinen Ausweis zeigen, bevor das Tor geöffnet wurde.
„Die Produktion hat die Sicherheitsmaßnahmen erheblich erhöht", erklärte Tim, „die Kontrollen sind so streng wie noch nie."
Na, das war doch zumindest schon mal ein positiver Ansatz. Ich stieg aus Tims Auto und sah mich um. Es fühlte sich anders anders, alles hier wieder zu sehen. Es war nicht mehr vertraut und sicher, es war ungemütlich und kühl. Ich ging los. Ich ließ mich von meinem Instinkt leiten. Ab ich achtete für einen kurzen Moment nicht auf Tim und ging einfach los.
„Studio ist in die andere Richtung!", rief Tim. Also keine Antwort gab, hörte ich wie er mir folgte. Ich musste noch mal zurück zu der Stelle, wo alles aufgehört hatte. Zu der Stelle, die ich seit gestern nicht mehr aus dem Kopf bekam. Ich hatte noch nie zuvor einen toten Menschen gesehen. Und dann lag der Mann plötzlich neben mir. Es fühlte sich nach wie vor nicht real an. Auch wenn es irgendwie weh hat. Er hatte sich mit vielen blauen Flecken auf meinem Körper verewigt - zumindest vorübergehend. Der Bereich in dem der Mann überwältigt wurde, war abgesperrt. Ich blieb kurz stehen.
„Du hast gesehen, wie er...", murmelte Tim und ich nickte als Antwort. Er legte von hinten seine Hände auf meine Schultern und strich mir dann über die Oberarme, um mich zu trösten. Ich gegen unter der Absperrung durch.
„Luisa!", zischte Tim und wollte mich zurückhalten. Ich sah weiter auf den Boden und gegen Stück für Stück weiter nach vorne. Da war es. Der Fleck, den er hinterlassen hatte. Er war noch da. Was auch sonst sollte hier abgesperrt sein? Minutenlang starrte ich darauf. Und ich begann zu zittern.
„Komm, du musst hier weg!", hörte ich wieder Tims Stimme. Er zog mich sanft vom Tatort weg Richtung Studio, bevor die Bilder in meinem Kopf so heftig wurden, dann ich zu weinen begonnen hätte. Mit einem Arm um meine Schultern gingen wir bis zu Marks Garderobe, an der Tim nun klopfte. Etwas später öffnete sich die Tür.
„Luisa! Wie schön! Dir geht's gut!", begrüßte er mich und nahm mich in den Arm.
„Ich lass euch kurz alleine", verabschiedete Tim sich.
„Komm rein, setz dich!", sagte Mark und schloss hinter sich die Tür, „ich hätte dich nach den Dreharbeiten noch angerufen! Aber schön, dass wir persönlich sprechen können!"
„Ein letztes Mal, Mark...", begann ich. Er runzelte die Stirn.
„Du möchtest aussteigen? Ja, das...das habe ich schon vermutet..."
„Es tut mir Leid!"
„Das muss dir überhaupt nicht Leid tun! Dafür hat jeder hier Verständnis! Aber es ist sehr schade!"
„Ich will nicht gehen, aber ich hab das Gefühl, ich kann nicht hier bleiben! Die Produktion ist einfach nicht in meinem Sinne..."
„Weil sie Tim bevorzugt haben?"
„Es...es geht hier nicht um Tim!"
„Wenn es das ist kann ich dir sagen: Hier sind über Nacht einige Köpfe gerollt! Uns ist die Wertschätzung jedes einzelnen hier extrem wichtig! Du und Vanessa hattet einen miesen Start und das tut mir Leid! Und was gestern passiert ist, ist nicht zu entschuldigen. Das ist alles, was ich dir sagen kann."
„Was passiert mit Vanessa, wenn ich nicht bei den Battles antrete?"
„Ähm...ich...ich muss gucken, was ich mit ihr mache...vielleicht lasse ich sie alleine singen oder in einer anderen Gruppe..."
Ich seufzte.
„Willst du vielleicht außer Konkurrenz nochmal singen?", bat Mark mir an, „ich bewerte Vanessa und du hilfst ihr?"
„Meine Familie ist strikt dagegen!"
„Und du? Hier geht es um dich! Was möchtest du?"
Ich sah Mark an. Ich dachte an Tim. Ich dachte an Vanessa und an die große Bühne, das viele Publikum, die Atmosphäre unter den Talenten. Und ich konnte meinem Geiselnehmer nicht den Gefallen tun, kampflos aufzugeben, oder? Ich wollte mit einem positiven Gefühl enden.
„Ja. Ja ich will das!", nickte ich und lächelte danach. Es war wie ein Druck, der von mir abfiel, nachdem ich es ausgesprochen hatte. Es fühlte sich richtig an. Es war meine Entscheidung.

Plan B - KAMRAD / The Voice of Germany FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt