An diesem Morgen erwachte ich mit einem Gefühl im Bauch, als würde ein Fisch darin herumzappeln. Heute war der große Tag! In diesem Moment schlief nicht weit entfernt von hier die andere Marie in dem Hostel, in dem sie mit ihren Klassenkameraden einquartiert war. Ich erinnerte mich genau an diesen Tag, der mein Leben so komplett verändert hatte. Ich war aufgestanden, hatte mir ein Top mit Spaghettiträgern angezogen, weil es heiß zu werden versprach, und war mit Sarah hinunter zum Frühstück gegangen.
Kaum konnte ich meine Gedanken auf die vor uns liegende Show fokussieren. Die Beutel mit allen Utensilien, die wir mitnehmen würden, lagen in unserem Zelt bereit. Wir würden sie ergreifen, sobald der letzte Applaus verklungen war, und uns heimlich davonstehlen, um den Pfad zu dem geheimen Höhleneingang zu nehmen, zu dem Ohitika uns schon von Toms Hütte aus geführt hatte. Das Gewitter würde erst am späten Nachmittag beginnen. Der Höhlenausflug, von dem ich nie zurückgekehrt war, war der letzte Punkt auf unserer Tagesordnung gewesen. Wir hatten also etwa eine Stunde Zeit zwischen Ende der Nachmittagsvorstellung und dem Einsetzen des Gewitters. Nicht viel, aber es sollte zu schaffen sein. Die Show würde alle ablenken und uns die perfekte Gelegenheit bieten, uns danach unbemerkt abzusetzen. Es durfte bloß nichts schieflaufen.
Aufregung ergriff mich, als ich kurz vor Showbeginn mit Ohitika und den anderen Darstellern zur Arena lief. Die Zuschauertribünen waren bis auf den letzten Platz gefüllt, die Luft vibrierte vor Erwartung und die helle Nachmittagssonne schien auf eine perfekt inszenierte Wild-West-Landschaft herunter.
Die Eröffnungsparade flog wie in einem Traum an mir vorüber. Ich nahm die Peitschenknalle, Pistolenschüsse und das Geschrei der Indianer wahr, als ich mit Billy durch die Arena ritt, fühlte mich aber seltsam losgelöst von dem Trubel um mich herum. Meine Gedanken waren ganz auf die bevorstehende Mission fokussiert. Ich beobachtete Fifis Nummer mit einer Mischung aus Bewunderung und Melancholie. Sie würde mir auf jeden Fall fehlen, aber wie so viele andere Menschen aus dieser Zeit musste ich auch sie zurücklassen.
Dann fand ein weiteres Mal die groß angelegte Büffeljagd statt. Ich verfolgte erneut, wie Ohitika mit unerschütterlicher Präzision seine Pfeile verschoss, während die Büffel durch das Rund der Arena preschten und Wolken von Staub aufwirbelten. Er war in seinem Element und egal, wie oft ich ihm dabei zusah, es würde mir niemals langweilig werden. Unter Schüssen und triumphierenden Rufen trieben die Indianerdarsteller die Büffel schließlich in die Mitte der Arena zu den Heuballen. Ohitika und Thokala ritten zur Zuschauertribüne heran, ließen ihre Pferde steigen und rissen den Bogen in die Höhe.
Das Publikum brach in Applaus aus. Eigentlich hätte das nun das Zeichen für sie sein sollen, die Pferde zu wenden und aus der Arena zu galoppieren. Doch Ohitika hob die Hand und das Publikum verstummte fast sofort. Das war nicht geplant. Was hatte er vor? Er ließ seinen Blick suchend schweifen, fand mich am Rand der Arena und nickte mir zu.
Ich schielte zu Randy hinüber, der die Stirn runzelte und den Kopf schüttelte. Doch Ohitika begann schon zu sprechen. „Was ihr hier gesehen habt, ist nur ein Schatten der großen Büffeljagden der Vergangenheit", begann er. Seine Stimme trug weit, auch ohne Mikrofon, aber er sprach auf Lakota. Ich verstand und begann zu übersetzen.
„Für mein Volk waren die Büffel alles – Nahrung, Kleidung, Behausung. Sie waren uns heilig und wir jagten sie mit Respekt und Dankbarkeit, nahmen nur, so viel wir brauchten. Doch dann kamen die Weißen und begannen, Büffel zu schießen, nur für ihre Zungen oder ihren Pelz. Den Rest ließen sie verrotten. Zu Tausenden töteten sie die Büffel und raubten uns unsere Lebensgrundlage."
Betretenes Schweigen hing in der Luft, als meine Übersetzung seiner letzten Worte verklang. Ich spürte, dass er Eindruck auf die Zuschauer machte, nicht nur durch seine Worte in einer für sie fremden Sprache, sondern durch sein ganzes Auftreten, seine ruhige Präsenz, die er mit seinen jungen Jahren ausstrahlte, vollkommen unbeeindruckt von der Menge der Zuhörer, als hätte er so etwas schon etliche Male gemacht.
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Plötzlich Indianer - Teil 2
Historical FictionMarie hat ihr Glück bei den Lakota an der Seite von Ohitika gefunden. Doch das Schicksal hat andere Pläne: Ein dramatisches Ereignis erschüttert ihre Welt und zwingt sie zu einer gefährlichen Reise. Gemeinsam mit Ohitika und dessen Rivalen Thokala b...