Jeremy #19

3.5K 265 26
                                    

Durch die Tür hörte ich You gonna need somebody on your bond. Entweder hatte er Sex gehabt oder er war in einer seiner Phasen. Ich trat ein. Mir schlug eine Wand aus Wärme und dem Duft nach Kaffee, Terpentin und Zimträucherstäbchen entgegen. Meine Augen gewöhnten sich bloß langsam an das Dämmerlicht, das in dem Raum herrschte und von vereinzelten Kerzen unterbrochen wurde, die auf dem Holz der breiten Fensterbretter standen und im Luftzug flackerten, als ich die Türe in meinem Rücken wieder schloss.Trotz des Zwielichts, dem Chaos und der stickigen Luft kam es mir jetzt erst vor, als käme ich nach Hause. Die sterile, makellose Welt meiner Eltern war noch nie das gewesen, wo ich mich wohl gefühlt hatte. Auf dem Boden lagen Papierfetzen und achtlos aufgeschlagene und wieder fallen gelassene Bücher herum. Die eigentlich weiß getünchten Wände des Zimmers waren mit schwarzen Worten und halb zerrissenen Buchseiten übersät, die mit Nägeln befestigt waren. Ich las Adam was beginning to realize that he hadn't known Ronan at all. Or rather, he had known part of him and assumed it was all of him. und direkt daneben stand mit schwarzem Filzstift Hear no evil, speak no evil - and you'll never be invited to a party geschrieben. Vorsichtig stieg ich über eine zerfetzte Leinwand, auf dem ein Chaos aus blauen, schwarzen und grünen Linien zu sehen war. Auf dem Bett in der Mitte des Raumes lag reglos ein Junge. Ein unversehrtes Buch lag auf seinem Bauch, das sich im Takt seines Atems hob und senkte. Schatten spielten in seinen rotblonden Haaren und seine Augen starrten blicklos an einen Punkt den bloß er sah. Er trug ein zerknittertes T-Shirt und grün karierte Boxershorts. Ich fragte mich, wie so viele blaue Flecken auf so wenig blasser Haut Platz finden konnten. Die Bänder am Ventilator knatterten, der eigentlich bloß die stehende, stickige Luft durchpfügte, ohne für Erfrischung zu sorgen. Donovan sang Your eyes are black as midnight und mit lief ein Schauer über den Rücken. Er gab immer noch kein Lebenszeichen von sich und starrte die Stelle an der Wand an, kurz vor dem Übergang in die Decke an dem eine beschriftete Skizze eines menschlichen Skeletts hing. Ich wusste nie, ob er einen absichtlich ignorierte, weil er keine Lust auf Menschen hatte oder weil er sich tatsächlich in seiner eigenen Welt befand. "Hattest du diese Woche Sex?" Ich stellte die raschelnden Tüten in der Küchenecke ab und warf meine Jacke über einen Barhocker, bevor ich behutsam meine Tasche abstellte und öffnete. Zwei fluorisierende Augen funkelten mich an, bevor Lou aus meinem Rucksack sprang und mich anfauchte, bevor er in eine Zimmerecke weghuschte. Es nahm es mir übel, dass er so lange Zeit in dem Rucksack hatte verbringen müssen. Das gelbliche Licht, das alles wie auf einer alten sepia Fotographie aussehen ließ, machte die Kanten weicher und ließen den Raum kleiner aussehen. "Darius hat Schluss gemacht und ich war die ganze Woche nicht draußen." Seine sonst so melodische und leicht melancholische Stimme klang rau, so als habe er sie lange nicht mehr benutzt. "Wovon hast du dich ernährt?" Er fuchtelte in Richtung einer Tasse auf seinem Nachttisch, der von Skizzenbüchern und Pinselbehältern verschüttet war. Er starrte immer noch die Knochen auf dem Papier an, als wolle er sie sich für immer einprägen und als hätte er Lou nicht bemerkt. Er hatte fünf Tage lang nichts anderes zu sich genommen als Kaffee. Typisch. Ich seufzte und befreite die Pizzen aus der Plastiktüte. Er drehte sich auf den Bauch und sah mich aus diesen Augen an... "Hast du Alkohol?" Er war eindeutig wieder in einer seiner Phasen und ich war froh, dass ich umsichtig genug gewesen war keine Schnapsflaschen in seiner Nähe zu lassen. Man musste auf ihn aufpassen, wie auf ein kleines Kind. "Nein. Und so wie ich das sehe wirst du in den nächsten paar Tagen auch keinen zu Gesicht bekommen." Er verdrehte die Augen und zwirbelte sich eine seiner Strähnen um einen Finger, an deren Ende eine kleine, grüne Glasperle im LIcht schimmerte. "Aber ich hab Pizza."; fügte ich hinzu und legte mein Handy, nachdem ich es stumm gestellt hatte mit den Auto- und Hausschlüsseln auf die kleine Bar. "Hast du mir Spinat mit..." "...Gorgozola mitgebracht. Ja." Ich legte meinen Rucksack ab und zog meine Jacke auf, wobei ich sie bloß über einen der Barhocker warf. Es fühlte sich so schön an, wieder in diesen Wänden zu sein, in denen ich jeden Riss und jede Erhebung kannte. Wie hatte ich das Wochenende bloß in ihrer schicken Villa überleben können und besonders, weshalb hatten sie mich überhaupt dort haben wollen, wenn sie doch sowieso keinen Wert auf meine Gesellschaft legten, da sie viel zu viel mit sich selbst beschäftigt waren? Ich nahm eine Wasserflasche aus dem stetig vor sich hin brummenden Kühlschrank und die beiden Pizzapackungen bevor ich den Parcour zu ihm aufnahm und mich mit meiner Beute auf sein quadratisches, unordentliches Bett fallen ließ, von dem ich gar nicht wissen wollte, wie viele Sünden darauf schon vollbracht worden waren. Er setzte sich in einer fließenden Bewegung auf und klappte die oberste Packung. Er verzog das Gesicht, als er den Belag sah. "Jer, du solltest wirklich aufhören diese ekelhaften Beläge zu bestellen. Langsam ist es nicht mehr lustig." Mit einem seiner langen Finger schob er mir die Packung zu und klappte die nächste auf. Während er sich schon über das erste Stück mit grünem Spinat und fädenziehendem Käse hermachte, begutachtete ich noch das Chaos um uns herum. Alles schien von dem Bett auszugehen oder darauf zuzulaufen, als sei es Teil ihrer Entstehungsgeschichte, was an sich vermutlich nicht einmal abwegig war. "Wieso hat er Schluss gemacht?", fragte ich nebenbei, während meine Augen über einen kurzen Artikel über Stefan Zweig huschten. "Er meint er könne meine Phasen nicht erdulden und fragt sich, wie du das nur aushalten kannst." "Frage ich mich auch manchmal..." Ich hatte ein Bild Der Freitod der Dorothy Hale von Frida Kahlo entdeckt. "Was erhoffst du dir von all dem?" Ich machte eine ausladende Handbewegung, die den gesamten Raum einfasste und all das undurchsichtige Chaos darin. Sah es in seinem Kopf so aus? "Recherchen.", sagte er knapp. "Recherchen wozu?" Er seufzte. "Mir." Am liebsten hätte ich ihn an seinen zu schmalen Schultern gepackt und einmal die ganzen Antworten aus ihm heraus geschüttelt, damit ich ihm nicht mehr alles aus der Nase ziehen musste. Donovan sang You gaze at his splendour with eyes you've not used yet. "Und was willst du damit herausfinden?" Seine Augen huschten selbst über ein paar Artikel und Bilder. "Ob es normal ist sich so zu fühlen..." Seine Hand war reglos in der Luft verharrt, während er das Zitat "Dichter verfügen über die Feinfühligkeit für die Wahrnehmung verborgener Seelenregungen" von Sigmund Freud anstarrte, wobei er das Wort Dichter durchgestrichen und Künstler darüber geschrieben hatte. Ich schwieg und wartete ab. "So viele Künstler haben Selbstmord begangen. Das kann doch kein Zufall sein..." Er klang mehr, als spräche er zu sich selbst. "Du willst darin Antworten finden?" Er wandte mir sein Gesicht zu und seine Augen wirkten dunkler als sonst. "Ist das so verkehrt?" Ich blickte noch einmal zu der Wand. Dem Geschnippsel über Geisteszustände von Menschen, die entweder nicht existierten oder tot waren. Ich entdeckte sogar Ophelia aus Hamlet. "Kyle, so kommst du nicht weiter." Er blitzte mich verärgert an. "Wie dann? Soll ich lieber Drogen nehmen oder zu einer Selbsthilfegruppe gehen? Tut mir leid, aber das bringt mir alles nichts. Fang nicht an, wie meine Mutter." Ich seufzte und öffnete endlich die Box meiner Pizza. Der Saugnapf einer Tintenfisches starrte mir wie ein vorwurfsvolles, leeres Auge entgegen. "Ich meinte bloß, dass du vielleicht am falschen Ende ansetzt." "Und was wäre das richtige Ende?" "Ob du einer von ihnen bist. Ob du wirklich so enden willst wie sie." Er zischte verärgert durch seine Zähne. "Wenn ich das nicht genau wüsste, würde ich mir nicht die Mühe machen die Zeitungen der letzten zwanzig Jahre nach Artikeln zu durchforsten." Ich seufzte. "Okay. Ich hoffe es hilt dir, aber zieh mich nicht da mit rein und gehe diese Woche wieder in die Uni." "Um Dinge zu lernen, die ich schon alle kann?" "Du bist manchmal zu arrogant." "Das musst du gerade sagen." Ich sagte nichts weiter dazu, sondern nahm mir ein Pizzastück, das zum Glück noch warm war. "Ich hatte dir schon gesagt, dass dein Vater dagewesen ist?" Ich nickte. "Er hat dir Essen gebracht." "Genau. Er war kurz in deinem Zimmer." Ich biss die Spitze des Dreiecks, das das Pizzastück bildete ab. "Meinetwegen." "Was haben sie dir dieses Jahre geschenkt? Eine Krawattennadel? Einen Füller? Wieder eine Uhr?" Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. "Nein. Ein Auto." "Oh, wow. Ein Porsche?" "Bitte. Darüber will ich jetzt wirklich nicht sprechen. Die Leute in der Schule, die sich meine Freunde nennen haben mich schon genug über technische Details ausgefragt." Er zuckte mit den Schultern. "Okay. Ich seh es mir später einfach an. Wahrscheinlich eh total langweilig oder ein Tussenauto. Und hast du in der Woche neue Bekanntschaften geschlossen?" Ich musste an Jérômes enttäuschten und wütenden Blick denken, als ich ihn zurückgewiesen und gesagt hatte, dass uns nichts verband. Vermutlich wusste er so gut wie ich, was für eine große Lüge das war. Uns verband um einiges mehr als ich mir vermutlich eingestehen wollte und irgendwie beängstigte mich das Interesse, das ich in ihn hatte. Kyle wedelte mit einer Hand vor meinen Augen herum. "Gleich etwas so Ernstes?" Ich seufzte und legte mein Pizzastück zurück in die Schachte, dessen Öl mir über die Handfläche lief. Achtlos wischte ich es an meiner Jeans ab. "Es ist nichts Wichtiges." "Das hast du bei ihr zu Beginn auch gesagt." Ich sah ihn ausdruckslos an. Er wusste, dass er damit ein Thema ansprach, über das ich nicht reden wollte, was vielleicht der Grund dafür war, dass er es überhaupt ansprach. "Er ist ein Junge." "Na und? Ich hab nur Beziehungen mit Jungs." "Ha-ha. Sehr witzig" Er schüttelte den Kopf. "Du weißt, dass das kein Witz war." Ich schwieg. Manchmal hatte es auch gute Seiten, wenn jemand einen gut kannte. Es sparte Worte. "Sie hat sich nicht gemeldet, oder?", fragte er so vorsichtig, wie man sich an ein scheues, verletztes Tier heran schlich. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf mit dem Blick auf einem Zitat von Klaus Mann. Ein Mensch meiner Art ist stets und allüberall einsam.

Drei Kapitel an einem Tag. Das habe ich noch nie geschafft. Ich hoffe euch stören nicht die vielen Zitate und ich will eure Meinung zu Kyle.

× Messed & Broken Hearted ×Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt