Jérôme #13

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Ich schreckte von etwas Rauem und Feuchtem aus dem Schlaf, das über meine Wange schrabte. Zarte Sonnenstrahlen fielen durch die Bäume. Es regnete nicht mehr und alles wirkte neu und frisch. Ich starrte in ein Paar gelbgrüner Augen und zuckte zurück. Das war nicht Jeremy. Außerdem welcher Mensch hatte längliche Pupillen? Sie schleckte mir noch einmal quer über das Gesicht, um es dann bei Jeremy zu tun. Er schob sie bloß weg und schlief weiter. Mir fielen jetzt erst seine verdammt langen, dichten, schwarzen Wimpern auf, für die die meisten Mädchen aus der Klasse über Leichen gehen würden. Erst da bemerkte, ich dass meine Hände auf seiner nackten Brust lagen. Seine Haut war weich, glatt und warm. Schnell zog ich meine Hände weg. Mir wurde heiß. Gestern hatte er doch noch ein T-Shirt angehabt... Und was tat die Katze hier? Hatte er sie vielleicht in seinem Rucksack gehabt? Er drehte sich auf die andere Seite und seufzte, während er die Decke wieder bis unter sein Kinn hochzog. Ich sah auf die Uhr, die über der Türe zum Bad hing. 7:53 Uhr. Die Lehrer hatten gesagt, wir dürften heute länger schlafen, da die Wanderung so anstrengend gewesen sei. Also mussten wir erst um 10 Uhr beim Frühstück auftauchen. Außerdem war das Programm angeblich sowieso erst auf den Nachmittag ausgerichtet. Ich setzte mich auf. Die Katze sprang auf meinen Schoss, rollte sich auf den Rücken und sah mich auffordernd an. Ich hatte Katzen eigentlich nicht so anhänglich im Kopf gehabt. Ich kraulte sie, sie begann zu schnurren, aber nach ein paar Minuten fauchte sie mich an und stolzierte zu Jeremy und schob sich unter seinen Arm. Sie passten zusammen. Schienen beide durch die Welt zu wandeln, als würde sie ihnen gehören. Ich mochte das Getue nicht. Ich stand auf, auch wenn ich die Wärme des Bettes eigentlich nicht hatte verlassen wollen und und schnappte mir meine Klamotten. Als ich im Bad vor den Spiegel trat waren meine Haare noch zerzauster als sonst und wurden auch nicht mehr ordentlicher, als ich sie versuchte mit den Fingern durchzukämmen. Das Wasser rieselte auf mich kalt herunter und brachte meinen Kreislauf wieder in Schwung. Ohne mich groß abzutrocknen zog ich meine Kleider an. Es schien heute wieder ein heißer Tag zu werden und die Badtüre schlug zu laut hinter mir zu. Jeremy blinzelte, kuschelte sich dann aber bloß an die Katze, die ihn nicht anfauchte und schlief weiter. 8:24 Uhr. Mein Blick fiel auf seinen Rucksack, den er achtlos unter das Bett geworfen hatte. Der Deckel war aufgegangen und das Messer, eine Packung Kaugummis und ein paar Stifte waren heraus gefallen. Ein schneller Blick bestätigte, das beide tief schliefen. Ich ging vor der Tasche in die Knie. Bloß ein ganz kurzer Blick. Ich versuchte nicht alle Kleider von ihm zu zerknittern, während ich in ihnen nach etwas Interessantem suchte. Ich wusste nicht, weshalb ich so neugierig war, normalerweise würde ich nie in der Privatsphäre eines Menschen herumstöbern. Aber ich wollte ihn kennen lernen. Wissen, was ihm wichtig genug war, um es mit zu nehmen. Ein paar Details aus seinem Leben kennenlernen. Sein Handy. Jeans. Kopfhörer. Chips. T-Shirts. Die Alkoholflasche. Ich entdeckte ganz unten im Rucksack drei Gegenstände. Ich zog sie mit zitternden Fingern vorsichtig heraus. Das eine war ein Kuscheltier, ein kleiner Hase, mit langen Schlappohren und kahlen Stellen an denen das Fell abgegangen war. Ich wusste nicht, ob es ihn sympathischer oder einfach bloß merkwürdiger machte. Ein MP3-Player. Ich scrollen durch die Interpretenliste. Kein Rap, kein Hip Hop. Nicht einmal die Spur von irgendwelchen Pop Songs. The Beatles reihten sich an Nirvana, My chemical Romance und sogar Amy Winehouse. Ich entdeckte so viele meiner Lieblingslieder, wie Bad Moon rising oder September, das mein Herz anfing zu flattern und Aufregung von innen gegen meine Brust und meinen Hals drückte. Während ich noch einen letzten Blick auf Zaz, Sum 41 und Billy Talent warf, verstaute ich das beides wieder im Rucksack. Das dritte war ein Notizbuch. Es hatte einen braunen Ledereinband und sah aus, als wäre das einzige, was es davon abhielt aufzuklaffen und die von abgeschnittenen und reingelegten Dingen gewellten und gebogenen Seiten preiszugeben, das Lederband, das sorgsam darum geschlungen war. Vorsichtig nahm ich den Kugelschreiber und den Bleistift, die beide unter das Band geklemmt waren heraus und löste den Knoten. Er ging auf und ich blätterte durch die Seiten. Ein berauschendes Gefühl vertrieb mein schlechtes Gewissen. Nicht bloß, dass ich etwas Verbotenes tat, ich hatte hier einen richtigen Schatz gefunden! Es waren Zitate, von Donovan, Angelo Branduardi, Cat Stevens, Bob Dylan und ich entdeckte sogar eins von Graham Nash, die sich an eigene Gedichte reihten, kombiniert mit atemberaubenden Skizzen, aus Kohle, Bleistift oder schlicht und ergreifend Kugelschreiber. Fotos und Zettel auf denen in enger Schrift Daten und Zitate von Menschen standen, die er wahrscheinlich persönlich kannte, Rechnungen und gepresste Blumen waren wie kleine bunte Farbkleckse eingeklebt, hingetackert oder mit Büroklammern befestigt worden. Mir stockte der Atem und gegen meine Brust drückt etwas, das eine Mischung aus Ehrfurcht, Neid und Aufregung war. Das große Gesamte, genau wie jedes kleinste Detail für sich war ein Kunstwerk. Ein Kunstwerk in schillernden Farben. Die Welt und die Eindrücke von ihr in winzig kleinen Momenten gefangen und in dem Buch eingefangen. Bruchstücke, die sich mit jeder Seite wie ein Mosaik weiter aneinander reihten. "Du hättest mich fragen können.", sagte er mit unbewegter Stimme. Ich zuckte zusammen, spürte wie alles in meinem Körper plötzlich erstarrte und hielt meinen Atem an. Hatte nicht gemerkt, dass er aufgestanden war. Er nahm mir sanft das Buch aus den Händen, verstaute es wieder im Rucksack und zog ihn zu. "Du... Du hättest sowieso Nein gesagt.", stotterte ich und wunderte mich, dass ich überhaupt irgendetwas heraus brachte. Er zuckte mit dem Schultern. "Wahrscheinlich." Er nahm die Katze auf den Arm, die sich laut schnurrend und mit geschlossenen Augen streckte und ich die Krallen in den Oberarm rammte. Er kniete sich wieder neben mich und ich wurde nervös. Ich spürte die Wärme, die von seinem Oberkörper abstrahlte. Zum einen wollte ich aufstehen, nicht so nah bei ihm sein und zum anderen wollte ich mit meinen Fingerspitzen darüber streichen und jedes kleinste Detail zu küssen. Mir wurde heiß. Ich konnte mich nicht einmal darüber wundern, dass er mir nicht sofort den Kopf abriss. "Lass die Finger von anderer Leute Leben.", flüsterte er in mein Ohr. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken und ich wusste nicht, ob es ein gut gemeinter Tipp oder eine Drohung war. Aber selbst wenn er mir jetzt ein Messer in den Rücken rammen würde, könnte es nicht das warme sprudelnde Gefühl in meiner Brust töten. Ich wusste mehr über ihn! Ich schrie erschrocken auf, als sich ein paar lange Krallen in mein T-Shirt und die Haut meines Rückens rammte. Die Katze balancierte auf meiner Schulter. "Woher hast du sie eigentlich?" Er stand wieder auf. Die viele nackte Haut machte mich nervös. "Sie war am Fenster." "Gehört sie jemand?" Er strich sich über die Augen. "Sieht nicht so aus." Ich spürte ihren Schwanz an der Wange. "Wie taufst du sie? Ist sie eine sie?" "Lou." Ich zog eine Augenbraue hoch und er verschwand im Bad. Die Katze blieb kläglich miauend vor der Türe sitzen, nachdem sie von meinem Rücken abgelassen hatte, der sich zerfetzt anfühlte. Ich hörte wie er ein Lied vor sich hin trällerte und biss mir auf die Lippe. Wie konnte an einem Menschen nur alles so schön sein?

× Messed & Broken Hearted ×Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt