Jérôme #4

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Der arrogante Arsch hatte mich angesehen als habe er in eine Zitrone oder etwas Bitteres gebissen, war aufgestanden und gegangen. War er sich zu fein, mit uns am Feuer zu sitzen? Er hatte ins Feuer gestarrt, wie ein Geisteskranker, was er wahrscheinlich auch war. Die Flammen hatten sich in seinen Augen wiedergespiegelt. Es hatte gruselig ausgesehen. Wenigstens war er jetzt weg. Ich betrachtete die Leute um das Feuer herum. Es hieß im Schein einer Kerze, sähen die Leute schöner aus. Ob das auch auf den Schein eines Lagerfeuers zutraf? Eindeutig nicht. Die Gesichter sahen genauso langweilig und klobig aus wie sonst auch . Ich hätte gerne gesehen, ob es auf gutaussehende Leute zutrifft. Ob sie dadurch noch besser aussahen. Aber Jeremy war nicht da, also konnte ich es nicht überprüfen. Ich fragte mich, ob er wieder kommen würde. Vielleicht hatte er sich ja in unser Zimmer eingeschlossen und würde drohen sich umzubringen, wenn er dazu gezwungen wurde, mit mir in einem Zimmer gesperrt zu werden. Ein paar Typen standen auf, wahrscheinlich um eine zu rauchen, aber Herr Schamm sagte, dass man sich bei ihm abmelden musste, wenn man gehen wollte. Ein paar beschwerten sich, dass Jeremy doch auch gegangen war. Herr Schamm behauptete, er habe ihm gesagt, was er vorhatte, aber ich zweifelte daran. Jeremy war niemand, der jemand sagte, was er vorhatte. Ich bekam einen Gesprächsfetzen von ein paar Mädchen mit. Irgendein Freund hatte Schluss gemacht und sie regten sich darüber auf, was für ein Schwein er war und versuchten gleichzeitig ihre Freundin zu trösten. Das war das gute daran, wenn man nicht mit seinen eigenen Freunden und Gesprächen beschäftigt war. Man war in der Rolle des Beobachters und bekam viel mehr mit, wenn man die Ohren und Augen offen hielt.

Neben mich ließ sich jemand fallen. Lautlos. In der Befürchtung es sei Mary, zu der ich einmal nett gewesen war und die mir seitdem hinterher gerannt war sah ich die Person an. Schwarze Haare, kalte Augen, helle Haut. Ich seufzte. Jeremy. Was hatte er so lange getrieben? Er sah mich gar nicht an. Er haute mich bloß mit einem länglichen Gegenstand fast vom Baumstamm und entschuldigte sich nicht einmal. Ich wollte ihn gerade erziehen, als ein Ton erklang, bei dem ich dahinschmolz. Erst recht an einem Lagerfeuer. Dieses Geräusch passte so gut. Seine Stimme erhob sich in Begleitung der Gitarre über das Feuer. Diejenigen, die noch sprachen wurden von ihren Nachbarn mit dem Ellenbogen zum Schweigen gebracht. Als seine Stimme erklang, stockte mir der Atem. Sie klang wie eine Mischung aus Neil Young, Bob Dylan und Donovan.

"I love you more than ever, more than time and more than love. I love you more than money and the stars above. Love you more than madness, more than waves upon the sea. Love you more than life itself, you mean that much to me."

Ich erkannte eins meiner Lieblingssongs. Jeremys Version reichte beinahe an Bob Dylans heran, wofür ich ihn hasste. Der einzige Unterschied war, dass Jeremys Stimme trauriger klang. Noch trauriger als Bob Dylans bei dem Song ohnehin schon. Der Sound seiner Stimme verflocht sich mit dem Rauschen der Bäume und dem Knacken des Lagerfeuers. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Er wirkte vollkommen selbstvergessen. Seine Augen waren geschlossen und ich fand es beeindruckend, wie schnell und sicher sich seine Finger auf den Seiten bewegten. Aber wieso hatte er die Gitarre geholt? Ja. Er konnte toll spielen. Aber wollte er bloß im Mittelpunkt stehen oder mit seinem Können angeben? Ich sah das anbetende Glitzern in den Augen, der Mädchen und den Neid in denen der Jungs. Wenn es ihm darum ging, hatte er es geschafft. Er ging nahtlos in ein anderes Lied über. Er sang sauber und klar, so dass man jedes Wort in der nächtlichen Stille hörte.

"On a wagon bound for market there's a calf with a mournful eye. High above him there's a swallow, winging swiftly through the sky. How the winds are laughing. They laugh with all their might. Love and laugh the whole day through and half the summer's night." Er übersprang den Teil des Refrains einfach an den die ganze Zeit bloß 'Donna donna donna' gesungen wurde. "Stop complaining, said the farmer. Who told you what had to be? Why can't you have wings to fly with like the swallow so proud an free? How the winds are laughing. They laugh with all their might. Love and laugh the whole day through and half the summer's night."  Seine Stimme passte so fantastisch in diese Nacht und umspielte die Stämme der Bäume Hand in Hand mit dem Wind, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen konnte, wie ich vorher am Feuer hatte sitzen können, ohne diesem Geräusch zu lauschen, das so vollkommen wirkte für diesen Moment. So perfekt...

Er fing an mit dem Lied Don't think twice, it's alright. Er zupfte mit den Fingern bloß ein paar Saiten. Man erkannte die Melodie jedoch sofort. Er öffnete die Augen und sah in die Runde. Sie waren auffordernd. Er wiederholte diese ersten paar Töne. Immer und immer wieder. Endlich traute sich jemand die ersten paar Worte zu singen. "It ain't no use to sit and wonder why, babe..." Er spielte weiter. Und stimmte mit ein. Ich bemerkte verwundert, dass ich da sang. Unsere Stimmen verflochten sich. Langsam, zögerlich, fielen alle mit ein, die den Song kannten. Die, die das Lied nicht kannten, summten die Melodie mit. Es war ein schönes Gefühl von Gemeinschaft. Am Ende des Liedes, brach er es merkwürdig abrupt ab. Er stand auf, stieg über den Baumstamm hinweg und verschwand in Richtung Herberge. Alle saßen da, wie benommen, als seien sie aus einem Traum aufgewacht. Nach einiger Zeit stand ich auf und ging ihm hinterher. Es war merkwürdig, was eine Stimme und eine Gitarre ausrichten konnten. Ich folgte ihm. Aber er war schon längst weg. Nirgendwo brannte Licht. Ich ging die Treppen hoch. In allen Ecken hatte sich die Dunkelheit verfangen. Ich wagte aber nicht Licht an zu machen. Ich machte vorsichtig die Türe auf. Mondlicht erhellte den Raum. Er hatte seine Gitarre an die Wand am Fußende seines Bettes gelehnt. Darunter auf dem Boden lag seine Jeans. Er lag im Bett, mit dem Rücken zu mir. Ich hielt den Atmen an. Es schien als sei der ganze Raum ein Gemälde. Es war ein Packt aus Finsternis und fahlem Mondlicht. Inmitten lag Jeremy reglos im Bett, als sei er tot. Er gehörte dazu. Aus einem unerfindlichen Grund duldeten ihn die beiden Gegensätze, die sich hier vereint hatten. Und ich passte nicht herein. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Es war gruselig. Ich mochte gruselig nicht. Am liebsten hätte ich das Licht eingeschalten und hätte lautstark gesungen. Wie früher, wenn ich Angst im Keller hatte. Doch ich war kein Kind mehr. Es war nicht mehr alles so simpel, dass man es durch Licht und Gesang vertreiben konnte.

× Messed & Broken Hearted ×Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt