Jérôme #22

3.5K 273 50
                                    

Ich bereute meinen Vorschlag. Langsam tat mein Rücken weh. Egal, wie ich mich hinsetzte. Egal, ob ich vorne an der Kante des Stuhles saß oder zurückgelehnt und meine Füße auf eine der freien Stühle am Tisch legte, es ändert nichts an der Tatsache, dass man bloß höchstens zwei einhalb Stunden auf dem unbequemen Holz der Bibliotheksstühle sitzen konnte. Ich seufzte, strich mir durch meine Haar und sah von meinem Buch auf zu dem noch vorhandenen Stapel vor mir. Jeremy hatte sich die Beine vertreten müssen und suchte daher über eine Biographie zu Sir Arthur Conan Doyl. Gerade als ich mich wieder den gedruckten Buchstaben von Der Vampir von Sussex zuwandte kam er mit drei weiteren, erschreckend dick aussehenden Büchern zwischen zwei Regalen hervor. Unsere Englischlehrerin hatte verkündet, dass wir zwei Wochen für unsere Präsentation hätten, sie zwischen fünfzehn und zwanzig Minuten gehen und für ausgearbeitet sein sollte. Er hatte die Bücher auf den kleineren der beiden Stapel und ließ sich auf einen der Stühle fallen. "Sollten wir die Bücher nicht ausleihen und irgendwohin, wo es gemütlicher ist, nachdem wir ein Pause gemacht haben?" Ich sah auf Mine Armbanduhr, nachdem ich mir die Seitenzahl gemerkt und das Buch zugeklappt hatte. 12:36 Uhr. Kein Wunder, dass mein Magen knurrte. "Gute Idee." Er nickte und zog seinen Büchereiausweis aus der Tasche seiner Jeans. "Ich leihe dir schnell aus." Damit hob er die zwei Stapel hoch, die auf seinen Armen gefährlich schwankten und verschwand. Seufzend zog ich meine Jacke über und packte den Notizblock und die Stifte in meine Tasche. Er unterhielt sich mit der jungen Frau, die ihm die Bücher auslieh, als ich mich hinter ihn stellte. "Schönen Tag noch.", sagte er, nachdem er das letzte Buch eingepackt hatte und ging raus. "Ich hab Hunger. Du auch?" Obwohl er es als Frage fornulierte, klang es wie die Feststellung, dass wir jetzt etwas essen gingen. Ob Fragen bei Menschen mit Geld immer so klangen? "Ich kenne eine gute Pizzeria in der Nähe." Er warf die Taschen mit den Büchern in den Kofferraum des Maseratis, nachdem er ihn aufgeschlossen hatte und öffnete die Türe auf der Fahrerseite. "Ich glaube nicht, dass ich genug Geld dabei habe.", sagte ich zögernd und sah ihn über das rot glänzende Dach hinweg ab. Er grinste. In letzter Zeit grinste er öfter. "Ich lad dich ein." Und setzte sich mit einer fließenden Bewegung auf den Fahrersitz und zog die Türe hinter sich zu. Ich trug das Hemd und die Jacke, die er mir gekauft hatte und eigentlich hatte ich keine Lust darauf schon wieder etwas von ihm anzunehmen, aber mein Bauch zog sich unangenehm zusammen und ich konnte mich nicht wie schon die ganze restliche Woche bloß von Tiefkühlessen ernähren. Als er den Schlüssel umdrehte erlebte das Auto, als könne es es kaum erwarten bis das Gaspedal bis zum Anschlag durchgedrückt wurde. Aber Jeremy parkte bloß aus und zuckelte in Richtung Stadtmitte. Das Auto roch nach Benzin und teurem Leder. "Willst du Musik hören?" Ich nickte, während er weiterhin den Blick auf die Straße gerichtet hatte. "Dann schau im Handschuhfach nach." Ich ließ es aufschnappen, die Klappe schlug mir gegen meine Knie, und sah die CDs durch. Michael Jackson, J. J. Cale, the Kooks, Panic at the Disco, Hall & Oates. Ich legte die CD whatever people say I am, that's what I'm not ein. Seine Finger drehten die Musik leiser, bevor sie uns die Ohren wegfetzen konnten. Der Rest der Fahrt verlief größten Teil schweigend und trotzdem war es irgendwie angenehm. Nicht so wie sonst wenn er schwieg, wo man seine Verachtung für alles und jeden in der Luft zu vibrieren spüren schien. Als er parkte, quietschten die Reifen leise über die Musik hinweg, er stellte sie mit einem gezielten Knopfdruck aus und stieg ohne einem weiteren Blick oder Satz aus.
Das Lokal war warm. Vielleicht lag es an den vielen Menschen, die genau wie wir mittagessen wollten, vielleicht aber auch an den Kerzen, die trotz der Mittagsstunde auf den weiß gedeckten Tischen flackerten oder vielleicht auch wegen beidem. Er ließ sich an einen Tisch in einer kleinen Nische fallen und schob mir die Karte zu. "Ich weiß schon, was ich nehme." Ich nickte bloß und klappte sie auf. Es war merkwürdig mit einem Jungen essen zu gehen, mit dem man sich noch nie tatsächlich unterhalten hatte und eigentlich nur durch eine merkwürdige Woche durch einen Lehrer, der uns beide hasste, Kontakt geknüpft hatte. Das Essen kam um einiges schneller, als mein leerer Magen es erhofft hatte und ich griff sofort nach dem Pizzamesser, um sie in Stücke zu säbeln, während er sein Kinn auf seine ineinander verflochtenen Finger lehnte und ich seinen Blick auf mir spürte. "Wohin gehen wir, wenn wir mit dem Essen fertig sind?" Ich sah aus, etwas enttäuscht da ich gerade das erste Stück meiner Pizza in meinen Mund schieben wollte. "Ich dachte, wir gehen zu dir.", sagte ich zögernd. Bisher hatten wir uns drei Mal für die Präsentation getroffen. Jedes Mal entweder bei ihm oder in der Bibliothek. Er strich sich mit einer befreiten Hand durch die Haare und ließ den Blick über die Menschen um uns herum schweifen. "Kyle hat ein Date.", setzte er an. "Und hat die Wohnung für sich reserviert." Er musste gar nicht weiter sprechen, um mir vorstellen zu können, was Kyle mit denen Date vorhatte. "Und in die Hölle meiner Eltern schleife ich dich bestimmt nicht." Ich sah ihn fragend an. "Wieso denn nicht?" Er strich sich über seine Augen, als hätte er es mit jemand unglaublich dummen zu tun, der etwas Offensichtliches nicht verstand. "Mein Eltern sind die Ausgeburt von Kapitalismus, Konsum und einem langweiligen Leben, das sie mit Arbeit oder fragwürdigen Vergnügungen verschwenden. Du willst sie nicht kennenlernen." Es wunderte mich, dass er so schlecht über seine Eltern sprach, nicht so sehr, wie die Tatsache, dass er überhaupt über sie sprach, aber ich akzeptierte es. "Wohin dann?" Er sah mich an und ich versuchte endlich zum Essen zu kommen, weil ich erwartete, dass er irgendwelche süßen Cafés oder Bars oder vielleicht auch einen Park vorschlagen würde. "Ich dachte, wir könnten zu dir.", sagte er langsam und ich erstarrte mit der Gabel in der Hand auf halbem Weg zu meinem Mund. "Das meinst du nicht ernst, oder?" Er runzelte fragend die Stirn. "Doch. Wieso? Wir waren bisher immer nur bei mir." Ich seufzte und ließ die Gabel wieder sinken. Mein Magen protestierte. "Es ist klein und unordentlich und..." Mir würde heiß. Ich würde überall hin lieber gehen, sogar in die Kanalisation, als mit ihm zu mir nach Hause. Er mit seinem eigenen Auto, den teuren Kleidern, der eigenen Wohnung und der Selbstverständlichkeit, mit der er mit Geld umging, die man bloß besitzen konnte, wenn man es sein Leben lang zur Verfügung gehabt hatte. "Das macht mir nichts aus." Die Falten auf seiner Stirn sahen unpassend zu seiner jungen Haut aus. "Du verstehst das nicht. Ich bin nicht wie du." Die Kerben vertieften sich. "Was meinst du mit wie ich?" Beinahe Misstrauen war in seiner Stimme zu hören. Ich wusste nicht, wie ich es ihm vermitteln sollte, ohne ihm alles zu verraten. "Hätte deine Mutter etwas dagegen?", fragte er beharrlich weiter. Ich schüttelte den Kopf. "Sie ist heute gar nicht da..." "Also. Was spricht dagegen?" Ich biss meine Zähne zusammen und senkte meinen Blick. "Ja?" Ich atmete scharf aus. "Gut. Gehen wir zu mir." Sein Blick huschte noch einmal über mein Gesicht, als frage er sich, weshalb ich mich so angestellt hatte und wendete sich dann seiner Pizza zu. Ich biss mir auf die Lippe und mir war beinahe schon wieder der Hunger vergangen. Ihm zu zeigen wie ich wohnte, machte mich nervös.

× Messed & Broken Hearted ×Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt