Kapitel 35

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Es heißt, wenn die Wahrheit endlich ausgesprochen wurde, wird alles besser.

Doch stimmt das je?

Ist es nicht viel eher so, dass man aus der Sache lernt und den Fehler vielleicht nie wieder macht, die Wahrheit selbst jedoch nichts besser macht?

Ganz im Gegenteil.

Die Wahrheit macht die ganze Sache, um die sich all die Lügen gedreht haben, meistens noch viel schlimmer.

Man will die Wahrheit doch nicht hören, wenn man die Lüge bereits geglaubt hat.

Man will die Wahrheit nicht hören, wenn sie schrecklicher ist als die Lüge.

Aber was ist, wenn die Wahrheit zwei Seiten hat?

Wenn die Wahrheit sowohl positive als auch negative Auswirkungen hat?

Und die Lüge fast nur negative?

Ist dann die Wahrheit nicht besser, auch wenn man die Lüge schon geschluckt hat?

Denn manchmal, nur manchmal, ist die Wahrheit unendlich befreiend.

Sie erlöst einen von der schrecklichen Lüge mit der man leben musste und die einen von innen zerfressen hat.

Sie erlöst einen von all den furchtbaren Schuldgefühlen und allem, was sonst noch dazu gehört.

Die Wahrheit, so scheint es, ist ab und zu gut für alle Beteiligten.

"Was?", flüsterte Harry entsetzt. Er ging drei Schritte zurück und rutschte an der ihm Halt gebenden Wand hinter ihm nach unten auf den Boden.

Mehrfach fuhr er sich durch die Haare und über das Gesicht. Sein Blick mied meinen, er konnte mich nicht ansehen.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Es tut mir leid? Es war nicht geplant? Sorry?

Alles bescheuert und unpassend.

"Harry...", sagte ich stattdessen leise. Er hob die Hand, um mich zu unterbrechen. Und dann sah er hoch und sein Blick traf auf meinen.

Und erst jetzt verstand ich, was ich ihm mit meinen Worten gerade angetan hatte.

Sein Schmerz und seine Schuldgefühle waren auch groß. Vielleicht nicht so groß wie meine aber mit der Wahrheit hatte ich ihm eine mentale Ohrfeige verpasst, die gesessen hatte.

Und ich konnte sie nicht wieder zurücknehmen.

"Was?", flüsterte er wieder. Es war, als würden meine Worte nicht bei ihm ankommen wollen. Als wollte er mit aller Macht nicht verstehen, was ich soeben gesagt hatte.

Ich schwieg weiter eisern, auch wenn es mir auf der Zunge brannte, ihm alles zu erzählen und mich tausend Mal bei ihm zu entschuldigen, auch wenn es womöglich nichts änderte.
Ich hatte ihm sein Kind vorenthalten. Wie sollte man so etwas entschuldigen?

Ein bisschen bereute ich meine Ehrlichkeit, doch die Erleichterung, dass ich es endlich hatte aussprechen dürfen, überwog.

Louis legte mir von hinten eine Hand auf die Schulter.

"Haz.", sagte er. "Harry, Paul hat es ihr verboten. Sie musste versprechen, es dir nicht zu sagen und dich zu verlassen."

Harry schüttelte ganz leicht den Kopf und als er wieder seinen Blick hob, war es um mich geschehen. Ich setzte mich ganz genau da, wo ich war, auf den Boden und fing an zu weinen.

Die Tränen in seinen Augen waren zu viel für mich.

"Harry, es tut mir so leid!", brachte ich zwischen meinen Schluchzern hervor. "Ich wollte das nicht, es war so schrecklich, dich zu verlassen! Aber ich wusste einfach keinen Ausweg mehr! Und ich wollte nicht dein Leben zerstören, indem ich als die dastehe, die dir ein Kind untergejubelt hat! Ich wollte das weder für dich, noch für Amelia." Ich hörte auf zu reden und weinte einfach weiter vor mich hin.

Ohne meinen Blick zu heben, spürte ich, wie Harry mich umarmte. Doch das machte alles nur noch schlimmer.

Wie konnte dieser Mann so toll sein? Wie konnte er mich umarmen, nachdem ich ihm solch eine Wahrheit eröffnet hatte? Ich war vollkommen verblüfft. Und gleichzeitig auch wieder nicht. Ich wusste, was für ein Glück ich gehabt hatte, dass ich Harry kennenlernen durfte, dass ich ihn lieben durfte und dass ich all das, was ich für ihn empfunden hatte, ebenso zurückbekommen hatte.

Das war nicht nur Glück, das war der absolute Wahnsinn gewesen. Glück im Überfluss sozusagen.

Und wenn mir genau jetzt jemand sagen würde, dass ich nicht wüsste, wie gut ich es hatte, würde ich mit dem Gedanken an Harry und Amelia lächeln und nicken und sagen 'Doch, das weiß ich ganz genau'.

Harrys Brust hob und senkte sich ebenso unregelmäßig wie meine. Wir saßen einander umarmend auf dem Boden meiner Küche und weinten.

Nachdem Louis uns irgendwann mit Taschentüchern versorgt hatte und wir uns wieder einigermaßen beruhigt hatten, setzten wir uns an den Küchentisch.

Harry griff nach meiner Hand und ich verstand die Geste, ohne dass er etwas sagen musste.

Er suchte nach Halt, nach etwas an dem er sich festhalten konnte, weil er wusste, dass seine Welt durch die Wahrheit mehr als nur ein bisschen aus den Fugen geraten würde.

Er suchte nach dem Halt, nach dem ich auch gesucht hatte, damals, als ich herausfand, dass ich schwanger war und Paul mir eröffnete, dass ich die Klappe zu halten hatte.

Mit dem Unterschied, dass er den Halt fand - in mir.

"Ich möchte alles wissen.", sagte er schließlich. Seine Stimme klang verschnupft, genau wie meine.

Ich nickte und drückte seine Hand.

"Und..." Er zögerte kurz. "Ich möchte sie sehen.", sagte er dann leise. "Ich möchte sie unbedingt sehen."

Ich lächelte. Ein schwaches, trauriges Leben, weil er die gesamte Schwangerschaft nichts von Amelia wusste und einen kleinen Teil ihres Lebens verpasst hatte - aber es war ein Lächeln.

Ich nickte.

"Okay.", sagte ich.

Und dann machte sich ein Gefühl in mir breit, das mir eine solche Gänsehaut verpasste, dass ich mich fast schüttelte.

Glück.

Gemischt mit Hoffnung.

Die Hoffnung, dass jetzt alles gut werden würde.

Ein wahnsinniges Gefühl.

Doch als Harrys Daumen kleine Kreise über meinen Handrücken fuhr, war zumindest ein kleiner Teil meines Lebens wieder in die Bahn geraten.

Und ich sog es ein, so heftig ich konnte.

Und genoss es in vollen Zügen.

Love The One You're With (Book 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt