Kapitel 40 ✔

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"Wo bist du? Meine kleine Lieblingsally." Ich halte die Luft an, um keinen Ton von mir zu geben. "Ich weiß, dass du hier bist! Wo versteckst du dich, Miststück?" Er brüllt. Ich habe Angst. Durch den winzigen Spalt zwischen den Türen meines Kleiderschranks sehe ich ihn, wie er unter meinem Bett nach mir sucht. "Du wertlose kleine Hure!" Er verschwindet aus meinem Blickfeld, doch dann erscheint sein Auge vor dem Spalt und ich sehe ihn grinsen. "Hab ich dich.", knurrt er amüsiert. Er richtet sich auf und reißt die Türen auf, ehe er mich am Hals packt und aus dem Schrank zerrt. Ich versuche zu schreien, doch er verhindert es, indem er fester zupackt. Er schmeißt mich auf mein Bett und setzt sich auf mein Becken, damit ich nicht weg kann. "Du bist wertlos. Aber für etwas kann ich dich vielleicht doch noch gebrauchen. Ein Ton und du stirbst, kleine Alley. Miststück. Hure!" Er drückt mir ein Messer an den Hals. "Hast du mich verstanden?",
"Ja.", krächze ich. Er grinst ekelhaft und steht auf, um mir meine Hose auszuziehen. Nein! "Wehe du gibst auch nur einen Ton von dir.", droht er. Er zieht sich selbst ebenfalls die Hose aus und die Boxershorts ebenfalls. Nein! Tränen laufen mir über die Wangen. Bitte nicht, Tommy! Ich weine stumm vor mich hin, während mein Bruder meine Beine auseinander drückt. Bitte! Nein! Er dringt ohne Vorwarnung einfach in mich ein und ich schreie. Es tut so weh! Es tut so weh! "Schnauze!", brüllt er und schlägt mir mir der Faust ins Gesicht. So doll, dass ich kaum noch bei Bewusstsein bin. Aber das, was er macht, entgeht mir nicht. Hör auf! Es tut so weh! Hör auf! Bitte nicht! Marco, hilf mir!

Ich schrecke aus meinem Traum hoch und beginne zu weinen. Schon wieder. Immer und immer wieder. Wieso musste Marco auch gehen? Er hätte bleiben sollen! Ich schluchze und vergrabe mein Gesicht unter meinen Händen. Ich kann die Schmerzen spüren. Ganz deutlich. Ich kann ihn, Tommy, riechen. Ganz deutlich. Ich muss hier raus. Ich kann nicht mehr. Ich brauche Luft. Ich stehe aus meinem Bett auf und greife mit zittrigen Händen nach meiner Jacke, die im Schrank hängt. Ich will nicht hier alleine in diesem Krankenhauszimmer sein. Wieso ist Marco gegangen? Er sollte bei mir bleiben! Ich schlüpfe in meine Hausschuhe und gehe aus dem Zimmer raus. Es ist mitten in der Nacht. Niemand ist auf dem Flur. Leise, um niemanden zu stören, gehe ich den Flur entlang und verlasse die Station, auf der ich bin. Eine ganze Weile suche ich nach einem Ausgang und endlich finde ich einen. Gierig ziehe ich die kalte klare Nachtluft ein und schließe dabei die Augen. Das tut gut. Ich gehe ein Stück und lasse mich dann im Park des Krankenhauses auf einer Bank nieder. Hier ist ein großer Teich mit einem winzigen Wasserfall. Das leise Rauschen des Wassers wirkt beruhigend auf mich. Es ist schön hier. Der Himmel ist ganz klar, nicht eine Wolke ist zu sehen, dafür aber tausende Sterne. So wunderschön. So makellos. So unbeschwert. Sie haben keine Probleme. Ich habe Angst wieder einzuschlafen. Hier draußen werde ich wach bleiben. Wenn ich müde werde, werde ich kurz spazieren und mich dann wieder setzen. Ich will nicht zurück in dieses Zimmer. Es engt mich ein und macht mich völlig kirre. Wieso also sollte ich wieder zurück gehen? Hier draußen ist es viel schöner und es riecht nicht so ekelhaft. Ich sehe mir meine Umgebung an und entdecke eine Uhr an der Wand des Krankenhauses. Es ist 3 Uhr morgens. Ziemlich früh. Oder spät. Je nach dem, wie man es sehen will.

Einen Monat. Was ist denn schon ein Monat? Ich will doch in die Schule gehen. Es stehen viele arbeiten an, Klassenarbeiten. Wie soll das denn gehen? Ich möchte so gerne einen Abschluss und möchte nicht noch einmal die 9. Klasse machen. Ich sehe auf meinen Bauch. "Du wirst mir noch das Leben schwer machen, Zwerg. Ich dachte, ich habe noch etwas mehr Zeit. Ich freue mich ja auf dich aber ich habe Angst, dass ich keine gute Mama bin." Eine Träne läuft mir über die Wange und ich wische sie schnell weg. Ich will nicht schon wieder weinen. Mein Kopf schmerzt schon genug. "Ally!" Ich zucke zusammen und drehe mich um. Mats, Cathy und Marco kommen angelaufen. "Mein Gott, was machst du denn hier draußen? Das Krankenhaus hat uns angerufen und uns gesagt, dass du verschwunden bist. Die haben alle Zimmer nach dir abgesucht." So lange sitze ich doch noch gar nicht hier. Naja, etwa 1,5 Stunden. Es ist halb 5. Cathy setzt sich neben mich und nimmt mich fest in den Arm. "Nicht. Bitte.", hauche ich und sie lässt mich sofort los. "Du hast schlecht geträumt, nicht wahr?" Ich nicke. "Ich glaube 4 oder 5 mal. Dann habe ich es nicht mehr ausgehalten und wollte an die frische Luft. Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass man das nicht darf." Cathy lächelt mich etwas traurig an. "Ist nicht schlimm, Süße. Wir haben dich ja gefunden." Ich nicke. Marco hockt vor mir und nimmt meine Hände. "Soll ich hierbleiben?" Ich nicke wieder. "Dann bleibe ich." Während Mats Marco einen tötlichen Blick zuwirft, ignoriert Marco diesen und küsst einfach meine Hand. Ich lege den Kopf schief und sehe ihn an. Ich hätte bis vor kurzem niemals gedacht, dass Marco so zärtlich sein kann. Oder spielt er das nur? Ich weiß es nicht. Aber irgendwie ist es schön. Wie vorsichtig er mit mir umgeht und wie gut er über alles nachdenkt, was er als nächstes macht. Er ist so fürsorglich und liebevoll. Dabei dachte ich, dass er eher der... naja, harte ist. Seiner Ex Freundin ist er so oft fremd gegangen. Und das mit uns damals war auch nicht gerade vorsichtig und zärtlich. Eher das Gegenteil. Ich weiß auch nicht, wieso ich mich darauf eingelassen habe. Es hat sich in dem Moment richtig angefühlt. Und es war richtig. Denn, wenn Marco und ich damals nicht miteinander geschlafen hätten, wäre ich nicht schwanger geworden und hätte ihn nicht aufgesucht. Mats und Cathy wären nie auf mich aufmerksam geworden und ich würde noch immer auf der Straße leben. Alles hat seine Vor- und Nachteile. "Lass uns reingehen. Du bist ganz kalt, Ally." Ich nicke und lasse mir hoch helfen. Marco nimmt meine eine Hand und Mats meine andere. Ja, mir ist sehr kalt. Aber das merke ich erst jetzt, wo Mats' und Marcos Hände die meinen wärmen. "Darf ich trotzdem noch zur Schule gehen?", frage ich leise. "Aber natürlich. Wieso solltest du das denn nicht dürfen?", fragt Mats irritiert. "Naja, weil der Arzt hat gesagt, dass ich vielleicht früher entbinden.",
"Du gehst so lange in die Schule, wie du möchtest. Es gibt Mädchen, die längst nicht mehr zu Schule gehen würden.", lacht Mats. "Ich weiß. Aber ich bin nicht wie die anderen Mädchen.",
"Das weiß ich doch, Ally. Und wie gesagt: du kannst so lange gehen, wie du möchtest. Das ist mit der Schule alles abgesprochen.",
"Okay.", sage ich leise und schweige dann. Wir gehen zurück zu meinem Zimmer und Marco hilft mir beim Schuhe ausziehen, während Mats und Cathy bescheid sagen gehen, dass ich wieder da bin. "Leg dich hin, Baby.", haucht Marco und drückt mich leicht zurück. Ich lasse mich ins Kissen sinken und strecke die Beine. Marco deckt mich zu und setzt sich dann auf den Stuhl neben meinem Bett, ehe er meine Hand nimmt. "Versuch zu schlafen, okay?",
"Aber nicht weggehen.",
"Nein. Versprochen.",
"Gut.", murmle ich und mache meine Augen zu. Das Letzte, was ich spüre, sind Marcos Lippen auf meiner Stirn.

Das Mädchen von der StraßeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt