Six

97 3 0
                                    

Wenig später wurde er jedoch von einem Klingeln an der Tür aus seinen düsteren Gedanken gerissen. Widerwillig erhob er sich, zog eine Jogginghose an, da er nur mit Boxershorts im Bett gelegen hatte und öffnete dann die Tür.
„Hey. Na, was machst du?", begrüßte ihn Simon. Gott sei Dank jedoch ohne Kamera in der Hand - bei Simon konnte man nie wissen.
„Nichts", antwortete er nur mit kratziger Stimme.
„Alles klar?", fragte Simon sofort nach, als würde er förmlich riechen können, dass irgendetwas so ganz und gar nicht in Ordnung war.
„Mhm", grummelte Ardy nur und fragte sich langsam, was Simon eigentlich hier wollte.
„Ist Taddl auch da?", fragte er ihn jetzt und spähte an ihm vorbei durch den Flur.
Er schüttelte nur den Kopf und sah an Simons Blick ganz genau, dass er spätestens jetzt wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Doch er fragte nicht nach. Eine von Simons besten Eigenschaften.
„Hast du Hunger?" Bei dieser Frage legte sich ein Blick auf Simons Gesicht, den er nur zu gut kannte.
„Hast du wieder noch keinen Vlog für heute gedreht oder was ist los?", fragte er ihn und kannte die Antwort eigentlich schon.
„Ne, bin noch nicht dazu gekommen. Bin erst vor ner Stunde wieder von Cathy zurück und da wollt ich uns mal n bisschen Ruhe gönnen und nich alles filmen, im Zug musste ich dann schneiden...naja. Also... hast du Hunger? Ich koch uns was."
Seufzend sah Ardy an sich herunter. So würde er sich definitiv nicht filmen lassen.
„10 Minuten?", machte er Simon einen Vorschlag, von dem sie beide wussten, dass er ihn überschreiten würde.
„Perfekt. Bis gleich", grinste Simon ihn dankbar an und war schon wieder auf dem Weg die Treppen nach oben.
Gut, eigentlich war sein Abend nicht so geplant gewesen, aber irgendwie war er doch dankbar für die Ablenkung. Das merkte er schon, als er einige Klamotten aus dem Schrank zog, um noch das passende Shirt zu seiner neuen Jeans zu finden. Dann noch Kontaktlinsen rein, Haare stylen, Kette und fertig. Naja, 30 Minuten. Nichts, womit Simon nicht gerechnet hätte.
Simons Vlog war heute also damit gefüllt, wie er etwas für sie beide kochte und während sie aßen und Ardy widerwillig zugeben musste, dass es wirklich gut schmeckte, überlegte Simon schon, vielleicht eine ganze Serie daraus zu machen. Jeden Tag ein Video, in dem er vegan kochte - weil er eh mehr selbst kochen wollte - und die Gerichte dann ausgerechnet Ardy, dem bekennenden Fleischliebhaber servierte, um von ihm ein Urteil darüber zu bekommen. Heimliches Ziel des Projektes war es natürlich, Ardy davon zu überzeugen, sich auch öfter vegan zu ernähren, dessen war er sich durchaus bewusst. Aber er war grundsätzlich nicht so sonderlich begeistert davon, jeden Tag vor der Kamera zu stehen. Denn das würde bedeuten, er müsste sich jeden Tag zurecht machen, die Haare stylen, keine Brille und Jogginghose tragen. Er wusste wirklich nicht so recht. Schließlich nahm er nicht ohne Grund die meiste Zeit seine Videos ohne Facecam auf.
„Kannst du dir ja noch überlegen", schloss Simon ihre Diskussion und räumte die Teller in die Spüle.
„Musst du wieder runter?", fragte er dann an Ardy gewandt, während er eine Packung Oreos aus dem Schrank holte. Eigentlich für Außenstehende eine seltsame Frage, aber irgendwie war es schon ganz normal für Taddl und ihn geworden, immer zu warten, wenn einer allein unterwegs war, bis der andere wieder da war. Dann würden sie noch kurz quatschen, sich erzählen, wo sie gewesen waren und dann würden sie ins Bett gehen. Es klang wie ein furchtbar langweiliges altes Ehepaar, aber es war mittlerweile eben einfach zu ihrem Ritual geworden, ohne das ihm immer etwas fehlte. Doch heute... Taddl hatte sogar die Wohnung verlassen, ohne ihm Bescheid zu sagen. Da würde er mit Sicherheit nicht auf ihn warten.
„Mhm... ne", fiel deshalb seine Antwort etwas knapp aus und er zog sich die Ärmel seiner Jacke über die Hände.
Simon warf ihm ein Päckchen der Oreos zu und beäugte ihn dann irgendwie misstrauisch.
„Also wenn du noch hier bleiben willst... ich hätte noch Bock auf ne Runde Mario Kart 8", bot er ihm jetzt an und machte sich schon auf den Weg zum Fernseher, um die Konsole einzuschalten und die Steuerungen zu holen.
Wie dankbar er Simon gerade war, dass er ihn nicht fragte, was los war und ihn einfach noch hier bleiben ließ, konnte er gerade wirklich nicht mit Worten ausdrücken. Er konnte sich gerade nichts Schlimmeres vorstellen, als so hellwach, wie er gerade war, in ihre vielleicht immer noch leere Wohnung zurück zu gehen, sich dort ins Bett zu legen und mit Sicherheit die ganze Nacht lang nur auf die Geräusche zu warten, die ihm verrieten, dass Taddl wieder zurück war. Taddl, der vermutlich immer noch nicht wirklich mit ihm sprechen wollte. Nein, da fand er es auf Simons grünem Sofa doch wesentlich besser. Auch, wenn er dauernd letzter wurde. Aber das war wirklich nichts, was ihn im Moment störte.
Einige Zeit später klingelte es auch noch an Simons Tür - wie immer in diesem Haus hatte man nie seine Ruhe- und Felix und Izzi wollten mit ihnen noch eine Runde longboarden. Erst wollte er sich dagegen entscheiden, doch als Felix ihn jetzt auch noch fragte: „Wo ist denn Taddl? Vielleicht hat der auch Bock", stand seine Entscheidung fest und er schloss nur noch kurz in ihre Wohnung, um sich seine Jacke und das Longboard zu schnappen. Die Wohnung war verdächtig dunkel und ruhig, so dass er davon ausgehen musste, dass Taddl immer noch unterwegs war. Seit Stunden mittlerweile.
Die kalte Kölner Nachtluft und das Gerede der anderen Jungs taten ihm wirklich gut. So musste er zwar selbst nicht viel sagen, da sie alle so viel redeten, dass es gar nicht auffiel, dass er noch ruhiger war als sonst, aber er konnte ihnen dennoch zuhören und versuchen, sich auf ihre Gespräche zu konzentrieren, um sich nicht wieder an diverse Szenen der letzten Nacht erinnern zu müssen.
Doch über Witze lachte er zu leise und auf Fragen antwortete er zu spät. Um noch bei grün über die Ampel zu fahren war er zu langsam und bei ihrem gemeinsamen Selfie für Izzis Instagram sah er nicht seltsam genug aus. Alles stimmte irgendwie nicht und wirkte seltsam entrückt. Nichts fühlte sich richtig an.
Zum ersten Mal, seit sie hier eingezogen waren, betrat er ihre Wohnung in dieser Nacht nur ungern. In Taddls Zimmer brannte noch Licht und er hörte ihn reden. Ob er ein Video aufnahm, telefonierte oder Besuch hatte, wollte er lieber nicht wissen. Schnell schlüpfte er erst ins Bad und dann in sein Zimmer ins Bett, um den verzweifelten Versuch zu starten, einschlafen zu können.
Als er am nächsten Tag aufwachte, fühlte er sich wie gerädert. Er hatte ewig gebraucht um einzuschlafen und war dann die ganze Nacht immer wieder hochgeschreckt. Zusammen genommen hatte er vielleicht zwei oder drei Stunden geschlafen.
Als er aufstand und ins Bad schlurfte, um zu duschen, fehlte Taddls Jacke bereits am Garderobenhaken; seine Schuhe und das Longboard waren ebenfalls weg. Fuck. Das nahm ihm die Entscheidung ab, ob er mit ihm reden sollte, oder nicht.
Aus unerklärlichen Gründen entschied er sich nach der Dusche tatsächlich dazu, sich nicht einfach wieder ins Bett oder aufs Sofa zu legen. Stattdessen spielte er erst eine Runde Hide'n'Seek, in der er einige Zuschauerfragen beantwortete und spielte danach das neuste Indie-Horror-Game. Das war einfach die Art von Spielen, die ihn am besten ablenkten, weil sie seine ganze Konzentration erforderten. Während er aufzeichnete wusste er schon, was in den Kommentaren stehen würde. „Hä? Wo ist Taddl?" „Leute, hier fehlt was: Taddl!" „Ardy spielt Horror ohne Taddl? Gibt's da etwa Stress?" etc.
Zwar saß Taddl eigentlich nur selten direkt neben ihm wenn er ein HorrorGame zockte, doch irgendwie schaffte er es doch immer irgendwie ins Video. Entweder weil er plötzlich ins Zimmer kam um ihn etwas zu fragen, weil er ihn erschrecken wollte oder weil Ardy nach ihm rief wenn er nicht weiter wusste oder er es gerade besonders gruselig fand. Aber dieses Mal natürlich nicht. Er war sogar bemüht, nicht ein einziges Mal seinen Namen zu erwähnen. Oh Gott, allein das würde schon Aufmerksamkeit erregen.
Nachdem er hier gleich vier Folgen am Stück aufgenommen hatte, was fast ein neuer Rekord war, bekam er jedoch doch Mal Hunger, schlurfte in die Küche und schob sich eine Tiefkühlpizza in den Ofen. In der Spüle stand eine leere Kakao-Tasse von Taddls Frühstück und ein leerer Teller. Seufzend ließ er sich auf einen Stuhl sinken, während er darauf wartete, dass seine Pizza fertig wurde. Hoffnungsvoll zog er sein Handy hervor, falls Taddl ihm auf WhatsApp geschrieben hatte, doch nichts. Auch sein Instagram verriet ihm nicht, wo er sich gestern und heute den ganzen Tag herumgetrieben hatte. Nichts Ungewöhnliches für Taddl, der großen Wert auf seine Privatsphäre legte. Doch normalerweise teilte er ihm solche Informationen zumindest privat irgendwie mit. Wenn schon nicht persönlich, dann wenigstens mit einem Zettel oder einer kleinen WhatsApp-Nachricht. Doch nichts. Keine Spur von Taddl. Das letzte Mal online gewesen war er auch bereits vor ein paar Stunden. Auch sehr ungewöhnlich für seinen besten Freund - außer er war gerade wirklich beschäftigt.
Am Abend war Taddl immer noch nicht wieder zurück. Doch seine Videos waren tatsächlich schon fertig geschnitten und eines lud er gerade schon hoch, als Simon wieder an der Tür klingelte und ihn zum Essen einlud - für sein neues Vlog-Projekt natürlich. Sie trafen wieder die gleiche Vereinbarung wie gestern und statt 10 brauchte Ardy dieses Mal 40 Minuten.
Leider musste er auch dieses Mal zugeben, dass das Essen wirklich gut war. Schon der zweite Punkt für Simon; das war nicht gut.
Wie ihre Stimmung im Video war, wusste er nicht. Aber es hatte wohl beim gestrigen Tag keine negative Rückmeldung gegeben.
Doch als die Kamera aus war, legte Simon sie zur Seite und sah Ardy dann lange an, bevor er in erstem Tonfall zu ihm sagte:
„Willst du nicht mal mit Taddl reden? Du siehst echt scheiße aus."
„Danke, Simon...", grummelte er nur vor sich hin und zog sich seine Jacke wieder über die Hände.
„Ich meins ernst. Ich will gar nicht wissen, was los ist, das geht mich nichts an und du musst es mir auch nicht erzählen. Und ich habe dich sehr gern hier und auch in meinen Videos, aber ich sehe trotzdem, dass irgendwas nicht stimmt."
„Mhm", machte Ardy nur und sah auf seine Hände. War er wirklich so leicht zu durchschauen?
„Woher...", setzt er an, doch wurde sofort von Simons Lachen unterbrochen.
„Alter, wer das nicht sieht hat definitiv Probleme."
Neugierig sah er auf und war auf Simons Erklärung gespannt.
„Es reicht schon wenn ich bei euch klingel, nur einer von euch beiden macht auf und der andere springt nicht innerhalb von 3 Sekunden ebenfalls ins Bild oder brüllt durch die ganze Wohnung, wer denn an der Tür ist. Oder dass Taddl nicht hier war, als es Abendessenszeit war. Wenn er nicht wirklich mal gerade alleine unterwegs ist, esst ihr immer zusammen. Und dann..."
„Okay, okay. Schon gut. Ich hab schon kapiert, dass wir eigentlich ziemlich armselig sind", unterbrach Ardy dieses Mal ihn.
„Boah Ardy, komm mal wieder klar. Ihr seid nicht armselig, ihr seid einfach nur... beste Brudis?!", antwortete Simon und sprach den letzten Teil in dieser dämlich kindlichen Stimme aus, von der Taddl und er nur allzu oft Gebrauch machten.
Doch dieses Mal brachte sie ihn nicht zum Lachen.
Beste Brudis... nicht einmal Simon hatte den Satz aussprechen können, ohne vor diesem Ausdruck eine furchtbar lange Pause zu machen. Sollte ihm das jetzt sagen, dass man durchaus auch mehr in ihnen sehen konnte?
„Also... du meinst ich soll mit ihm reden?"
„Du weißt doch, dass ich auf reden stehe, also ja: reden."
„Du bist ja auch unser Öko-Veganer", antwortete er, verpasste Simon mit einem Grinsen einen Stupser gegen die Schulter und stand dann tatsächlich auf.
„Danke", murmelte er noch vor sich her, sah Simons aufmunterndes Lächeln und ging dann in den Flur, um sich Schuhe anzuziehen und endlich mit Taddl zu reden.


T zu dem ArdyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt