eine dornige Abkürzung

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Ich starrte schon eine ganze Weile an die Decke. Als ich aufgewacht war, hatte es gerade gedämmert. Deshalb und auch wegen dem gestrigen Lagerfeuer hatte ich nicht wirklich Lust aufzustehen. Billys Reaktion hatte mir deutlich gemacht, wie real diese Welt war. Es war ein komplett anderes Gefühl hier zu sein und sich nicht nur den Film anzuschauen. Vor allem weil ich hier auch Menschen oder Werwölfe verletzte, indem ich, so wie gestern, ihre Werte und Vorstellungen mit Füßen trat.

Sich über ein Buch lustig zu machen war eine Sache. Aber dann den Leuten zu begegnen, über die ich lachte... Vor allem so real und greifbar.

Ich hätte meine Meinung über die Legenden für mich behalten sollen, Billy war zurecht sauer geworden. Ob er es immer noch war? Ich meine, bei Jessi einen Witz zu machen, war eine Sache. Sie redete dann nicht mit mir. Aber hier ein ganzes Volk zu beleidigen? Bei dem Gedanken an Billys zorniges Gesicht bekam ich Bauch weh. Auch weil das im Normalfall nicht meine Art war.

Mir wurde auch bewusst, dass ich bisher nie Angst vor den rotäugigen Vampiren hatte, aber nun waren sie eine reale, tödliche Bedrohung.

Unwillkürlich zog ich die Decke höher, als mir ein Schauder über den Rücken lief. Der Wunsch, wieder nach Hause zu kommen, war gleich viel größer. Bevor mir wieder die Tränen in die Augen stiegen, stand ich lieber doch auf. Mir war eine Idee gekommen und vielleicht würde ich so wieder zu meinen Eltern kommen.

Ich tapste die Treppe runter, aber es war keiner zu sehen. Mir war klar, wenn ich einfach verschwinden und sie mich erneut suchen würden, dass das unschöne Auswirkungen für das weitere Zusammenleben mit den Kötern hätte. Also suchte ich gefühlte Stunden einen Stift und einen Zettel. Dann überlegte ich, was ich schreiben könnte. „Wenn ihr das lest, bin ich vielleicht schon wieder in meiner Welt" allerdings fiel mir ein, wie peinlich es wäre, wenn ich wieder vor der Tür stehen würde. Also schrieb ich „Bin kurz an der Luft, bis später Tracy"

Ich platzierte das Blatt gut sichtbar auf dem Tisch und beeilte mich, nach draußen zu kommen, denn ich hatte keine Lust, Sam anzutreffen.

Ich wendete mich rechts Richtung Klippe und stand vor dem Waldrand. Verwirrt sah ich mich um. Ich war mir sicher, dass ich hier lang musste. So oft wie Jess und ich hier gewesen waren, konnte ich mich doch nicht irren. Langsam dämmerte mir, dass es den Weg, den ich kannte, wohl nur in meiner Welt existierte. Nach einigem Suchen entdeckte ich einen Wildwechsel, der ungefähr in die richtige Richtung führte.

Eine gefühlte Halbestunde später, wahrscheinlich waren es nur ein paar Minuten, hing ich im dritten Dornenstrauch, ein Netz aus schrammen hatte sich bereits zu dem blauen Fleck von Sams Griff gesellt. Ich fluchte, als auch noch ein Ast mir ins Gesicht schnellte, und mir spürbar die Wange zerkratzte. Der Umweg über die Straße, wäre zwar gefühlte zehn mal länger gewesen, aber wahrscheinlich leichter zugänglich. Außerdem hätte ich mir um die 1000 schrammen gespart.

Aber ich war nun mal die Faulheit in Person, also warum den langen Weg, wenn es auch einen kurzen gab?

Nach unzähligen weiter schrammen kam ich endlich an der Klippe an. Mein Haut brannte wie Feuer durch die ganzen kleinen Verletzungen. Ich klopfte mir den Dreck von meinen Klamotten und bemerkte geknickt, dass ein Loch im geborgten T-shirt war. Ich seufzte lustlos und hob den Kopf. Überrascht hielt ich die Luft an. Das Meer schäumte, vereinzelte Vögel flogen darüber und langsam ging die Sonne auf. Der atemberaubende Ausblick hielt mich kurz fest und unweigerlich fügte sich eine Szene in meinem Kopf zusammen, ich kam freudestrahlend über den Sand gehüpft und Seth auf mich zu, in der Hand einen gläsernen Schuh... oh falsches Märchen. Ich schimpfte darüber, dass ich mir so was albernes und beklopptes überhaupt ausmalen konnte.

Kopfschüttelnd ging ich zum Rand der Klippe. Je näher ich dem Abgrund kam, desto langsamer wurde ich, dafür schlug mein Herz um so schneller. Die letzten paar Zentimeter zu überwinden dauerte eine Ewigkeit. Langsam schob ich mich voran, bis ich mich nicht weiter traute. Ich beugte mich langsam vor, Jessi hätte schon längst die Nerven verloren und mich angefleht, zurückzukommen. Durch ihre Höhenangst wäre ihr schon vom Zuschauen schlecht geworden. Ich konnte sehen, wie das Meer sich unten an den Felsen brach und die Wellen schäumte. Mein Magen kribbelte vor Aufregung. Mir kam meine Idee plötzlich total wahnwitzig vor. Ich hatte überlegt, nochmal von den Klippen zu springen, um zu versuchen dadurch wieder in meine Welt zu gelangen. Aber man musste doch total bescheuert und lebensmüde sein, hier runter springen zu wollen. Es musste einen anderen Weg geben, hier sah ich mich lediglich auf Felsen zerschmettert in der Gischt treiben. Gerade als ich entschied wieder zurück zu gehen, spürte ich einen festen Druck um meinen Brustkorb. Mit einem Ruck verlor ich den Boden unter den Füßen, sah diese frei über dem Abgrund schweben. Ein Schrei entwand sich meiner vor Panik trockenen Kehle. Ich wollte nicht sterben.



Manchmal gibt es zum Tod eine Alternative | Seth Clearwather | PausiertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt