10 - Krankenhausbesuch

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"Was hast du denn jetzt für eine Phase? Alien-Models? Richtig abgespacte Jungs!", zischte mir Anna zu, während wir schnelllen Schrittes den Gang nach dem richtigen Zimmer absuchten. Taddl, Ardy und Luna warteten unten im Wartezimmer auf uns.
Ich musste grinsen. Anna hatte Recht, die Taddl, Ardy, Marley und Luna waren Aliens. Diese Idee war mich schon gekommen, als ich sie das erste Mal gesehen hatte. Ich war sowieso der festen Überzeugung, dass es Ausserirdische gab und dass sie hier versteckt unter uns lebten. Bis vor einem Monat hatte ich allerdings noch keinen Tarn-Alien gesehen, aber ich war mir sicher, dass die Jungs und Luna welche waren.
Als wir das sterile Zimmer betraten, war meine eingermassen gute Laune sofort wieder verpufft. Ich sah ihn an. Er war kreidebleich und sah tausend Jahre älter aus als sonst.
"Onkel Mario", flüsterte ich sprachlos. Er öffnete die Augen und sah mich an. In seinem Blick erkannte ich Liebe.
"Alisha, Schätzchen. Wie geht es dir?" Er sah mich schwach lächelnd an.
Wir unterhielten uns lange. Anna sass meistens nur auf dem Bett und schwieg, aber ich wusste, dass sie auch traurig war.
Ein Aorta-Aneurysma tritt auf, wenn man älter wird, weil die Aorta ausleiert. Man kann es operieren, aber die Chance, dass es einem danach schlechter als zuvor geht, ist sehr hoch. Der Tod ist einigermassen schmerzfrei: Die Person bekommt plötzliche Bauchschmerzen, weil die Aorta gerissen ist, das Blut läuft aus und dann schläft man ein. Es ist ein ruhiger, sanfter Tod. Aber niemand will gerne sterben, und vorallem will niemand eine Person sein, die dem Toten nahesteht.

Schweigend verliessen wir das Krankenhaus. Luna lächelte mich ermutigend an, aber nichts half gegen meine Trauer. Ich wusste, dass Mario sich nicht operieren lassen wollte, aber als er es Anna, Dr. Hoffting und mir sagte, war ich trotzdem schockiert und fing an zu weinen. Es fühlte sich an, als würde ich auf einem Staudamm stehen und dieser würde unter mir zusammenbrechen.
"Es ist ein sehr schöner Tod", fing Taddl an, aber ich unterbrach ihn schnell.
"Nein. Kein Tod ist schön. Mein Onkel wird von innen verbluten. Das ist nicht schön." Meine Antwort war pampiger ausgefallen, als ich wollte.
"Sorry...", murmelte Taddl leise und zog sich die Kapuze tief ins Gesicht.
Ich seufzte. "Nein, mir tut es leid. Ich weiss, dass es ihn hätte schlimmer treffen können. Krebs oder so. Es ist nur...Die Aorta kann jetzt noch 20 Jahre lang halten und er stirbt schlussendlich an irgendwas anderem, aber sie kann auch heute, jetzt zum Beispiel, reissen. Das ist das Problem." Ich kaute auf meiner Lippe rum und merkte gar nicht, dass sie anfing zu bluten.
Anna verabschiedete sich ziemlich schnell, weil sie die Kinder nicht allzu lange mit Marc alleine lassen konnte. Vier Kinder zu hüten sei eine echte Herausforderung, hatte sie uns zum Abschied gesagt. Ich stimmte ihr natürlich zu, aber sie war selbst Schuld. Oder Gott, wenn man es sich aus ihrer Sicht überlegte.
"So. Da die verantwortungsvolle Mutter nun abgehauen ist, können wir ja jetzt richtig trauern." Ardy sah grinsend in die Runde und öffnete seinen Rucksack, um uns die vielen Flaschen Alkohol darin zu zeigen. Luna sah mich fragend an und zuckte mit den Schultern.
"Von mir aus."

Ich lachte und nahm einen Schluck meines Getränks. Ardy erzählte eine lustige Geschichte nach der anderen und ich lachte so viel, dass ich nach diesem Tag wohl ein Sixpack haben musste. Vielleicht, dachte ich, waren seine Geschichten gar nicht so lustig, dachte ich. Warscheinlich lag es auch nur am Alkohol.
"Eine Flasche voll Hennessy", begann Luna zu singen.
"Zwei Strassen zum Venice Beach", rappte weiter Taddl und trank seinen Pappbecher leer.
"Drei Spasten, die Scheiss machen wie Gumball, Darwin und Anais!", schrie Ardy in die Abendluft hinein und prostete uns allen zu.
"Wir sind aber vier Spasten", korrigierte ich Ardy nachdem wir alle einen Schluck tranken.
"Niemand mag Klugscheisser!", lallte Taddl und grinste mich an. Ich stand auf, füllte meinen Becher mit dem Flusswasser und spritzte Taddl nass.
Er sah mich gespielt böse an und rief:"Na warte, du kleines Biest!" Taddl packte mich und trug mich bis zum Ufer.
"Nicht ins Wasser, hör auf! Ich habe nichts zum Wechseln da!" Ich kicherte und landete im Rhein.
"Idiot!", rief ich. Mein Kumpel lachte und sprang selber ins Wasser.
Wir verbrachten den Nachmittag lallend und lachend im Rhein. Die Sorgen um meinen Onkel waren dank des Alkohols schnell vergessen. Die Snapback von Ardy ersetzte einen Ball und schnell hatten wir uns ein lustiges Spiel ausgedacht. Es war trotz des warmen Sommers nicht zu heiss und eine angenehme Brise wehte. Wir verbrachten den ganzen Samstagabend im Wasser und konnten den Sonnenuntergang beobachten. Das gelbe Sonnenlicht wechselte langsam in einem schönen Spiel der Farben zu orange, weiter zu rot und zu rosa. Kurz bevor es dunkel wurde, leuchtete das schönste Lila auf, das ich je gesehen hatte. Eine Mischung zwischen pink, fuchsia und blau. Es sah aus, als wäre der Himmel plötzlich durchsichtig geworden und das weite Weltall sickerte durch. Dunkel, majestätisch, mysteriös. Und dann war es Nacht. Dieses Blau, das immer dunkler wurde, wie wenn man im Meer taucht. Der Himmel wurde schwarz und die Sterne leuchteten auf. Es waren tausende, unzählbar viele, grosse und kleine. Jeder Stern war anders. Ich dachte daran, wie jeder Stern eine Seele war, die unser Nachthimmel erleuchtete. Vielleicht landete man ja wirklich im Himmel, wenn man starb, und zwar wortwörtlich. Das war ein schöner Gedanke. Hoffentlich landete ich auch mal am Himmel, war ein schöner Stern und liess mich von Menschen wie Ardy, Luna, Taddl und mir im Rheinwasser bewundern.

Schicksal - Taddl TjarksWo Geschichten leben. Entdecke jetzt