5. Dezember

515 36 5
                                    

Wütend setzte ich die Taschen auf dem Boden ab.
Mit zusammengebissenen Zähnen wischte ich mir den Schnee aus den Augen.
"Joe!", brüllte ich und schüttelte meine Hände einmal in der Luft um den Schnee loszuwerden.
Ich sah wie er und sein bester Freund, Henry, sich über mein verdattertes Gesicht halb tot lachten, wie kleine Kinder.
"Entschuldige Mary, aber du bist einfach im perfekten Moment aus dem Auto gestiegen", prustete Joe.
Henry grinste schelmisch.
"Kann ich Ihnen behilflich sein, Ma'am?", fragte Joe beim Näherkommen und verbeugte sich halb.
Ich verdrehte die Augen, drückte ihm aber die schwerste Tasche in die Hand.
Er stöhnte gespielt unter ihrer Last auf und tat, als würde er zusammenbrechen.
Jetzt kam auch Henry näher und schnappte sich wortlos ein paar Skier.
Mein Vater und meine Brüder waren noch am Kofferraum beschäftigt, nur meine Mutter hatte sich bereits vollgepackt und lächelte fröhlich.
"Hallo Joe! Wie geht's dir Henry?", fragte sie beschwingt.
"Guten Tag, Mrs Green.", sagte Joe lässig und lächelte zurück.
"Mir geht's super. Und Ihnen?", sagte Henry munter.
"Danke, gut! Na, dann wolln wir mal", erklärte meine Mutter motiviert.
Ich hob die zweite Tasche auf und zog noch einmal an den Riemen meines Rucksacks.
Dann folgte ich der Bagage, immer noch stirnrunzelnd, wegen der kalten Begrüßung.
Aber das war Joe.
Plötzlich sauste etwas Kleines auf mich zu und ich wurde von zwei kleinen Armen umschlungen.
"Mary!", rief Seth erfreut mit seiner niedlichen Quietschstimme.
Seth, war der kleine Bruder von Joe und 6 Jahre alt.
Er war unglaublich süß und ein kleiner Wirbelwind.
Im Gegensatz zu Joe war er nicht ganz so vorlaut und auch nicht ganz so frech.
Er war mein 'kleiner bester Freund' und ich liebte es mit ihm herumzutoben und zu spielen.
"Hey Seth! Wie geht's dir?", fragte ich fröhlich, beugte mich ein wenig runter und legte meinen freien Arm um ihn.
"Guuut!", sagte er und legte seinen Kopf in den Nacken um mich anzusehen.
"Hey Seth, wie wärs, wenn du mit hoch in mein Zimmer kommst, damit ich meine Sachen dort abstellen kann und dann gehen wir runter in den Speisesaal zum Abendessen, dann kann ich auch deinen Eltern 'Hallo' sagen", schlug ich vor und löste ihn vorsichtig von mir.
Er nickte und steckte sich seine Fäuste in den Mund.
"Soooo kalt", bibberte er.
"Da hast du Recht", sagte ich und legte ihm eine Hand auf die Schulter und lenkte ihn sanft in Richtung Hotel.

Eine Viertelstunde später gingen Seth und ich gemeinsam in den Speisesaal.
Seine Eltern sahen uns gleich und winkten uns zu sich.
"Hey Julia, hallo Rob!", begrüßte ich sie erfreut.
"Na, wie geht's dir Mary? Schön das du da bist. Seth, Joe und Clara lagen uns schon in den Ohren, wann ihr endlich kommt.", lächelte Julia.
Ich sah Joe, der bereits bei seinen Eltern am Tisch saß, mit hochgezogener Augenbraue an.
Er grinste nur und trank einen Schluck heißen Kakao.
Ich verdrehte nur die Augen.
Denn meine Beziehung zu Joe war... kompliziert und mit einigen 'körperlichen Auseinandersetzungen' beziehungsweise mit Schneeballschlachten, Prügeleien samt Einseifen im Schnee, gebrochenen Armen und verbissenen Skiwettfahrten verbunden.
Diese waren, seit wir klein waren, jedes Jahr unumgänglich, was meinen und seinen Eltern oft Kopfschütteln bereitet hatte.

Clara, war die elfjährige Schwester von Joe und furchtbar lieb.
"Setz dich doch zu uns", meinte Robert lächelnd.
Ich setzte mich und nahm Seth auf meinen Schoss.
Julia goss mir eine Tasse Kakao ein.
"Danke."
"Und Mary, wie ist es dir im letzten Jahr ergangen? Was gibt es neues?", fragte Rob.
"Hast du einen Freund?", Julia zwinkerte mir zu.
Ich wurde natürlich knallrot, nickte aber.
Joe verschluckte sich an seinem heißen Getränk und begann fürchterlich zu husten.
Robert klopfte ihm auf den Rücken.
"Und wie heißt dein Verehrer?", setzte er das Gespräch fort.
"Chris Dunken", murmelte ich.
"Der?", fragte Joe und brach in schallendes Gelächter aus.
"Du kennst ihn??", fragte ich irritiert.
"Ich wünschte nicht", antwortete Joe immer noch lachend.
Er stand auf.
"Henry!", rief er und pfiff einmal durch die Zähne.
Am anderen Ende des Saals sah Henry hoch, ein halbes Brötchen im Mund.
Er stopfte es ganz rein und sprang auf.
"Na dann viel Glück mit ihm", giggelte Joe, joggte zu Henry und verließ mit ihm den Speisesaal.
Mit gerunzelter Stirn sah ich ihm nach.
"Was meint er denn damit?", ich sah Julia und Robert fragend an.
Julia zuckte mit den Schultern.
"Keine Ahnung, denk dir da aber mal nichts dabei. Du weißt doch wie Jungs manchmal sind."
Ich nickte nachdenklich und setzte Seth neben mich auf die Bank der Sitzecke.
Doch was Joe gesagt hatte, wollte nicht aus meinem Kopf.
Wieso hatte er so abschätzig reagiert?
Und woher kannte er ihn bloß?

All I want for Christmas is youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt