Part 4 ~ Enjas Engel

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Für Anne und Joan_1999 und Laura mit ihren Dreiecken


Newt pov

Ich starrte Marcia lange und mit prüfendem Blick an um zu sehen, ob sie ernst meinte, was sie sagte.
Ihr Gedächtnis auslöschen.
Ich fragte mich, ob sie das ernst meinte. Vorsichtshalber ließ ich mich langsam auf einen Stuhl mit grünem Überzug nieder und warf einen Blick auf den Bildschirm des Kwams. Dort war ein Junge mit einem freundlichen Lächeln zu sehen; er trug einen Kapuzenpulli so wie ich es sonst immer getan hatte. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass ich in ein weißes Hemd und eine saubere Jeans gesteckt worden war. Fast automatisch griff ich an meinen Hals um nach der dünnen Goldkette zu tasten, die ich Tag und Nacht und ewig trug. Getragen hatte. Mein Hals fühlte sich irgendwie nackt an, es gab nichts, woran ich mich hätte festhalten können. Ich merkte, wie mein Kopf sich erinnerte. Es waren Bilder aus den letzten Jahren; Enja und ich, wie wir auf einer Hollywood-Schaukel saßen und uns gegenseitig durchkitzelten, Enja, verträumt in den Himmel schauend während ihre Mutter und ihr Vater händchenhaltend die Straße überquerten, mein Dad...
Mein Dad.
Ob er wohl noch lebte?
"Was ist in der Stadt passiert?", fragte ich.
"W.I.C.K.E.D ist gut", sagte Marcia nur und deutete auf den Bildschirm, auf dem nun eine andere Gestalt zu sehen war. Es war ein Mädchen mit blonden Haaren, die zu einem Fischgrätenzopf geflochten waren und ihre schmale Schulter herunterhingen. Sie hatte blaue Augen und eine kleine Nase, die mich irgendwie an Enja erinnerte. "Wer ist das?", wollte ich wissen.
"Den Steckbrief kannst du in der linken oberen Ecke anfordern", antwortete Marcias Kollegin. "Wenn du jemanden ausgesucht hast, drücke einfach den schwarzen Knopf da. Er wird uns zeigen dass du fertig bist und den Betreffenden auf das Labyrinth vorbereiten.
"Labyrinth?", echote ich.
"Die betreffende Person wird in einem Labyrinth - genauer gesagt in der Mitte davon - einem weiteren Test unterzogen. Ihr Gedächtnis wird gelöscht, aber sie wird..."
"Was, wenn ich es nicht tue?", fragte ich mit einer gewissen Schärfe in der Stimme.
"Dann", sagte Marcia, "werden wir dich in so ein Labyrinth schicken." Ich starrte sie entsetzt an. "Das kann nicht Ihr Ernst sein", hauchte ich.
"Leider doch, mein Junge. Und jetzt mach deine Arbeit." Marcia nahm ihre Kollegin am Arm und führte sie zu der Tür. Nur einen Augenblick später waren sie verschwunden. Mit zitternden Fingern tippte ich in die linke obere Ecke. Ich fragte mich, was ich hier tat. Das Mädchen hieß Kelsey, war fünfzehn Jahre alt und kam aus New York. Sie kam aus New York. Und sie war gerettet worden. In gewisser Hinsicht hatte sich Enjas Wunsch also doch erfüllt. Es war jemand gerettet worden, durch einen eingriff der Initiative, die ich zu ihrer Rettung vorgeschlagen hatte. Sie sollte, sie musste froh sein. Ich klickte mich langsam durch einen Katalog von etwa fünfzig, wenn nicht sechzig Jugendlichen und ich wollte keinem von ihnen das Gedächtnis rauben. Ich ging die Leute noch einmal durch, wieder fand ich niemanden, dem man sein Leben nehmen sollte. Ich wusste nicht, wie lange ich dort vor dem Kwam saß und die Steckbriefe studierte. Bei genauerem Hinsehen fand ich, dass es nicht alle verdiente, zu leben. Ein Mädchen, das Soleil hieß, hatte in ihrer Vergangenheit ihre Familie an Cranks verraten, nur um sich selbst zu überleben. Und genau das hast du auch getan, Newt, sagte ich mir. Ich wollte es nicht wahrhaben, doch insgeheim wusste ich, dass es stimmte. Wenn ich mich schon nicht selbst bestrafen konnte, sollte wenigstens jemand anders unter den selben Taten leiden. Ich drückte den schwarzen Knopf.

Ich wollte nicht, dass mein zukünftiger Alltag so aussah. Ich wollte niemanden verletzen, niemandem das Leben nehmen, und wenn es nur die Erinnerungen waren. Erschöpft obwohl ich nichts getan hatte ließ ich meinen Kopf auf die Hände sinken. Es konnte doch nicht wahr sein. Wann war zuletzt alles normal gewesen. Wie lang war der Tag, an dem er herausgefunden hatte, dass Tanita zum Crank mutierte, her? War das gestern gewesen oder vorgestern, vielleicht schon vor einer Woche? Ich hatte mich nur kurz umgesehen, als sie mich hierher gebracht hatten doch jetzt wollte ich das Zimmer auseinandernehmen. An der Tür fing ich an, robbte auf dem Boden entlang bis ich voller Staub war, dann war die kleine Kommode dran. Die Schubladen waren teilweise leer, teilweise mit frischen Klamotten gefüllt. Ich wühlte darin herum, gab auf und hockte mich auf das schmale Bett. Etwas knirschte leise. Das Geräusch von zerbrechendem Glas auf Metall. Ich kniete mich hin und wühlte in meiner Bettwäsche herum, bis ich etwas fand, was ich als Allerletztes hier erwartet hätte. Es war ein gläserner Anhänge in Form eines Engels; die Schwingen waren in winzige Dreiecke zerbrochen. Der Anhänger war mit einer dünnen silbernen Kette verbunden, deren Facetten die Farben des Lichts reflektierten. Es war die Kette, die sie zu ihrem zehnten Geburtstag bekommen hatte. Sie gehörte Enja.



Newt: Way Home Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt