Gales Sicht Kapitel „10"

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Wir sind im Hovercraft über dem Kapitol. Die Rettungsoperation ist im vollen Gange.
„Wir landen jetzt! Geht durch den Hintereingang. Beeilt euch!", höre ich eine Stimme.
Ich beeile mich, bereit vor der Tür zu stehen,bevor wir landen und schaffe es gerade noch.
„Raus, raus, raus! Wir können nur für zwanzig Minuten garantieren! Los!", brüllt Beetee uns an.
Sofort rennen wir heraus, öffnen die Tür und laufen zu den Treppen. Noch scheint hier nur einfacher Flur zu sein.
Boggs ist genau drei Schritte vor mir im Stockwerk darunter, als allererster. „Dreizehntausender!", ruft er.
„Zuerst nach unten!", rufe ich ihnen zu. Ich bin in den Stockwerk angekommen und renne die gleich daneben liegende Treppe hinunter. Dabei sehe ich einen Schild an einer Tür, auf der 13000 drauf steht.
„Zwölfttausender!", ruft Boggs und wir alle rennen hinterher. Cedric und Fairy trennen sich von uns, den sie sind für die Zwölftausender und Elftausender zuständig.
Boggs lässt uns immer weiter zurück, so wie ich die anderen zurück lasse. Wir beide sind die Schnellsten, Boggs etwas schneller als ich.
„Elftausend!", ruft er herauf. Die Treppe weiter nach unten ist nicht so einfach zu finden, doch laufe ich einfach seinem Ruf nach.
Als ich bei den Elftausendern ankomme, sende ich ihn um die Ecke biegen und ich folge ihm.
„Zehntausender!", höre ich ihn. Ich sehe mich um, so die anderen sind und erkenne sie, wie sie hinterher um die Ecke biegen.
„Elftausender.", sage ich auf ihre verwirrten Mienen.
So läuft es immer weiter und die Treppen scheinen immer weiter voneinander entfernt zu sein.
Asu, Dean, Lydia und Skadi haben sich mittlerweile getrennt. Skylight und Stasia und die Leeg-Schwestern sind noch bei uns.
„Sky, Stasia, die Sechstausender!", sage ich ihnen und die beiden jungen Männer trennen sich wieder von uns, auf der Suche nach Gefangenen, die sie retten können.
„Wo sind bloß die Treppen?", höre ich Boggs vor uns fragen und sofort schauen wir uns besorgt um. Wo können Sie nur sein?
„Ich habe sie gefunden!", ruft eine der Leeg-Schwestern irgendwo rechts hinter mir. Ich sehe mich um und sehe auch noch, wie Boggs auftaucht und mit mir zu der Leeg-Schwester läuft. Dort finden wir beide die Treppen runter rasend.
„Fünftausender.", murmeln wir alle.
Angestrengt halte ich nach den nächsten Treppen Ausschau, doch es ist Boggs, der sie findet. Wieder einmal. „Viertausender."
Die garantierte Zeit von zwanzig Minuten müssen wir längst überschritten haben, doch spricht keiner von uns es aus. Wir wollen wohl alle nicht gehen, ohne gesucht zu haben.
Sie müssen hier sein. Irgendwo.
Die Leeg-Schwester trennen sich nun ebenfalls von uns und wir suchen angestrengt nach diesen Treppen.
Ich finde einen Gang, der ohne Türen gerade entlang geht und folge ihm und finde einen breiten Seitenweg an dessen Ende. Ich laufe hinein und sehe weiter hinten die Treppe hinunter.
„Boggs!"
„Hinter dir!", höre ich seine Stimme und fahre zusammen.
„Eine Nachricht von Beetee. Wir haben noch weitere dreißig Minuten Zeit. Kein Ablenkungsmanöver musste bis jetzt eingeschaltet werden, wir wurden noch nicht bemerkt.", informiert er mich.
„Wirklich nicht?", frage ich verwirrt.
Es ist eine komische Vorstellung. Das Gebäude müsste voller Friedenswächter sein und wir waren nicht gerade leise.
„Durch den Stromausfall haben die andere Probleme.", erklärt er.
Natürlich, der Stromausfall! Kein Alarm konnte losgehen, keine Schlösser funktionieren mehr. Theoretisch können die Gefangenen einfach heraus. Ihnen interessiert das eher.

Wir rennen durch das riesige Stockwerk, auf der Suche nach Katniss und den anderen. Wir sind bei den Zweitausendern und können sagen, diese Zellen sind alle winzig klein und verdammt viele. Wir befinden uns momentan sehr viele Meter unter der Erde, laut Beetee ungefähr 40 Meter.
„Sieh mal!", flüstert Boggs und zeigt nach links. Ich folge seinem Blick und bleibe wie versteinert stehen.
„Mein Gott!", stoße ich aus. Mir bietet sich ein furchtbarer Anblick: Die schlichte Steinwand ist einem gewaltigen Käfig gewichen, nicht wie die Zellen gegenüber winzig klein, sondern wirklich riesig. Bei den Anblick des Käfigs müssen viele der Gefangenen hier verrückt geworden sein, denn der Käfig ist gefüllt mit Folterinstrumenten: Batterien und Kabel, lange und kurze Messer, Schwerter und Spritzen, Zangen und Fackeln, Peitschen in verschiedenen Varianten, mit Dornen und angeschlossen an Batterien, Mehrfach-Peitschen, ... Holz- und Metallgerätschaften, die bei der Benutzung wahrscheinlich jeden zum Reden bringen. So viele undefinierbare Dinge. Und merkwürdigerweise auch Fernseher. Der bloße Anblick davon muss die Entschlossenheit eines jeden Gefangenen ins Wanken bringen und in dieser Reihe sind viele gezwungen, es den ganzen Tag anzusehen.
„Wir müssen sie alle hier rausholen!"
Bei den Instrumenten kommt mir wieder die Erinnerung an meine Auspeitschung. Der Schmerz war unbeschreiblich schrecklich und doch sieht es nicht so aus, als wäre das das Schlimmste. Nicht annähernd. Plötzlich habe ich Schuldgefühle, weil ich ihr ab und zu auch Vorwürfe gemacht habe, weil sie tat, was Snow wollte. Ich weiß gar nicht, was sie hier durchmachen musste!
„Gehen wir erst hinunter.", sage ich mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Wir halten Ausschau nach der nächsten Treppe und laufen an bestimmt zwanzig Eingängen zu den leeren Zellenreihen vorbei. Alle paar Meter kommen wir am Gitter vorbei, die wir einfach aufstoßen können. Wir entdecken die Treppe auf der anderen Seite des Stockwerks und gehen zu den Tausendern.
Die Zweitausender und die Tausender sind ähnlich aufgebaut. Die Zellen sind in einzelnen Reihen lang über das gesamte Stockwerk verteilt. Zwei Reihen Zellen sehen sich gegenüber. Nur in der ersten Reihe und in der letzten Reihe sieht man Wände oder den Käfig auf der anderen Seite. Die Zellen sind alle unterschiedlich groß. Eine ganz kleine Zellengröße ist in den Zweitausendern und Tausendern ganz normal, doch gibt es auch größere und kleinere. Im Gegensatz zu den höheren Stockwerken sind die Zweitausender und die Tausender komplett grau, während die anderen, die Dreitausender zum Beispiel, alle vollständig weiß sind. Auch sind die Zweitausender und die Tausender die einzigen schmutzigen Stockwerke. Hier klebt überall getrocknetes Blut, Erbrochenes, Eiter und noch viel mehr auf dem Boden. Insgesamt fühle ich mich hier wirklich wie in einer Zelle und fühle auch Angst hier unten.
Es beunruhigt mich, dass wir bis jetzt noch keine Gefangenen gefunden haben.
„Wo sind die bloß?", frage ich bedrückt.
„Ich weiß es nicht.", antwortet mir Boggs.

Verwirrt starre ich die Treppe nach unten an. Eigentlich dürfte sich hier keine weitere Treppe befinden.
„Vielleicht sind sie ja dort unten. Komm!", sage ich Boggs.
Langsam und müde gehen wir die Treppe hinunter. Das viele Training für die Ausdauer in Distrikt 13 hat sich ausgezahlt, sodass wir länger schnell rennen konnten, doch hielt es natürlich nicht ewig und ich war jetzt aus der Puste.
Unten hat die Anzahl der Gitter sich verdoppelt und ein weiterer Käfig mit den Folterinstrumenten zieht sich die kompletten Außenwände entlang. Die Zellen sind nur halb so groß wie die kleinsten Zellen in den Zweitausendern und den Tausendern. Vor der ersten Zelle steht die Nummer 1 auf einem Schild, auf einem Schild in der Zelle die in der nächsten Reihe ist, direkt an der Rückseite der ersten Zelle, steht 100 drauf. Mein Gefühl der Angst und Beklemmentheit ist hier noch deutlich stärker. Wir laufen am Rand entlang und schauen in jede Reihe, doch sehen wir niemanden.
Wir sind schon bei 800 angekommen, da hören wir es. Schritte. Hier ist jemand. Von weiter vorne kommt es her und wir halten den Atem an, um ja nichts zu verpassen.
„Bitte! Tut mir nichts!", höre ich ein leises, mir bekanntes Flehen.
Leise sein fällt mir jetzt deutlich schwerer und ich versuche mit aller Kraft den Drang zu unterdrücken, einfach blindlings nach vorn zu rennen.
„RUHE!", brüllt jemand, gefolgt von dem Geräusch eines Schlages und einen schmerzhaft klingenden Stöhnen. Damit habe ich meine Kontrolle verloren und will losrennen, doch als ob er es geahnt hätte, packt Boggs mich an der Schulter und schüttelt den Kopf.
„Haben Sie das gehört? Woher ist das gekommen? Das klang nach ihr!", flüstere ich im flehenden Ton. Ich möchte unbedingt zu ihr!
Ich erkenne, wie Boggs in seine Mailmanschette die Worte Haben K gefunden. Friedenswächter sind hier. Versuchen sie zu befreien. eintippt.
Ein Rasseln dringt in meine Ohren und ich nutze Boggs Abgelenkt sein, um zu ihr zu kommen. Ich schaue überall genau hin, suchte nach ihr, suche sie. Da taucht Boggs wieder an meiner Seite auf und schaut sowohl mitfühlend als auch besorgt auf mich.
„Wo ist sie bloß? Ich bin mir sicher, dass sie es war!", spricht er meine Gedanken leise aus.
Wir sind am Ende des geraden Gangs angekommen und müssen nach links biegen, da sehe ich sie. Obwohl sie voller Wunden ist und eigentlich nicht mehr wie Katniss aussieht, erkenne ich sie sofort.
„Da ist sie! Dort!", rufe ich und renne auf sie zu. Boggs' Schritte sind direkt hinter mir.
Blitzschnell drehen sich die Friedenswächter, ganze vier Stück, um und einer hält Katniss wie ein Schutzschild vor sich. Der Friedenswächter nimmt ein Messer und legt es an ihren Hals und ich bleibe abrupt stehen.
Katniss ist mit Handschellen und Fußfesseln gefesselt, ihr Mund ist zugeklebt. In ihren Augen stehen Tränen.
Ich höre, dass Boggs noch nicht stehen geblieben ist und die Reaktion der Friedenswächter ist schnell: ein zweiter holt ein weiteres Messer hervor und schneidet ihren Arm auf. Ich kann den Schmerz in Katniss Gesicht lesen.
„Katniss.", flüstere ich.
Ich habe die komplette Kontrolle über meinen Körper verloren. Ich renne nach vorne, auf sie zu, und erkenne das Blut leicht ihren Hals herunter tropfen. Ich sinke auf die Knie und starre auf ihr Blut.
Die Friedenswächter heben ihre Waffen, zwei sind auf mich gerichtet, einer nach hinten, auf Boggs.
Mit einem plötzlichen Ruck lehnt Katniss sich in die Klinge und das schwache tröpfeln wird zu einem starken Rinnsal. Ihr Körper klammert sich noch verzweifelt ans Leben, doch sie selbst hat es bereits aufgegeben. Angst. Panik. Verzweiflung. Erkenntnis. Das spüre ich noch, als Boggs mich packt und wegziehen will, während Katniss in sich zusammen sackt.
Ich bin des Denkens unfähig. Nur die Sterbensszene eben lässt sich nicht aus meinem Kopf vertreiben.
Boggs zieht mich mit und mein Körper gehorcht seinen Anordnungen. Nur noch eins gelangt an mein Gehirn. In einer der größeren Zellen ist ein mir bekannte Mädchen.
„Annie!", sage ich und wir holen Sie raus.

Pausiert gefangener SpotttölpelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt