Rehe und Ruinen

250 28 103
                                    

"Hallo, aufwachen."

Leonies Gedanken klammern sich an die Fetzen des Traums, der gerade noch ihre Welt bedeutet hat und sich nun auflöst. Letzte Bilder ihres Zimmers in ihrem früheren Zuhause und der dort wohnenden Normalität entgleiten ihr.

Sie blinzelt und sieht Sonnenlicht auf einer Mauer. Sie liegt auf einer harten, unbequemen Unterlage . Vor ihrem Gesicht entdeckt sie ein Bein. "Hmm?"

"Aufwachen, wir wollen los." Die Stimme ist nicht unfreundlich, und als Leonie realisiert, wem sie gehört, dreht sie ihren Kopf und folgt dem Bein nach oben. Silvan lächelt sie an.

Schnell wechselt Leonie ihren Gesichtsausdruck von wer-wagt-es zu hallo-ich-freu-mich. "Guten Morgen", sagt sie und versucht frisch und munter auszusehen. Ihre Hände suchen den Reissverschluss ihres Schlafsacks und öffnen ihn. Sie schält sich frei und erhebt sich.

"Ich bin schon fertig!" sagt sie, doch Silvan ist bereits wieder nach draussen gegangen. Zum Glück, realisiert sie, denn sie trägt nur ihre Unterwäsche.

Sie zieht sich ihre Hose über. Ihr Pullover stinkt nach Rauch.

Klaus, Rosie und Jenna sitzen in der Sonne und frühstücken. Leonies Magen knurrt und sie geht zu ihrem Rucksack. Nebst einigen feuchten Klamotten findet sie darin nur noch eine Tüte Trockenfrüchte. Sie hat ihrer Mutter ausführlich erklärt, dass sie die nicht mag, und die Tüte resolut zurückgewiesen. Offenbar hat die Mutter ihr die Trockenfrüchte dann aber doch noch in den Rucksack geschmuggelt, dickköpfig und hinterhältig wie sie ist. Zum Glück, hört sie ihren Magen vorwurfsvoll brummen. Manchmal sind Mütter doch hilfreich. Blitzschnell verdrängt sie diesen Gedanken aber wieder.

Draussen ist der Himmel genauso postkartig blau wie gestern, und die Sonne steht eine Handbreit über den Bäumen. 

Leonie fühlt sich müde, unausgeschlafen. "Hey Leute, ich habe Jetlag!"

"Kaffee haben wir leider keinen", sagt Rosie und lädt Leonie mit einer Geste auf einen Baumstamm neben sich ein.

Leonies Mund ist trocken – Kaffee wäre nicht schlecht. Sie setzt sich. "Hat jemand von euch dieses Fauchen gestern Nacht auch gehört?"

Die anderen schütteln ihre Köpfe.

"Es klang, als würden zwei Tiere miteinander kämpfen. Es hörte sich voll gruselig an. Gesehen hab' ich aber nichts."

"Zombies fauchen manchmal", meint Rosie grinsend und zieht damit einen schon fast bedrohlich mürrischen Blick von Jenna auf sich.

"Ich bin vorhin etwas rumgegangen", unterbricht Silvan, möglicherweise in einem Versuch, einen sich anbahnenden Zickenkrieg zu verhindern. "Einen richtigen Weg habe ich nicht gefunden, aber es gibt so etwas wie eine überwachsene Strasse, dort hinten." Er weist auf die andere Seite des Gebäudes. "Sie scheint in die richtige Richtung zu führen."

Leonie erhebt sich. "Bevor wir gehen, eine Frage. Hat jemand von Euch noch Wasser?" Die Dörrfrüchte haben ihren Durst noch eher verstärkt.

"Ich habe mir gerade Wasser aus dem Bach geholt." Silvan hält seine Trinkflasche hoch.

"Bist du verrückt? Man kann doch nicht einfach Wasser aus einem Bach trinken." Jenna schüttelt sich angewidert. "Das muss man doch zuerst ... abkochen."

"Hast du eine Pfanne ... zum Abkochen?" entgegnet Silvan. "Und das Wasser ist wirklich gut. Ganz klar und erfrischend."

"Ich glaub's dir." Leonie geht zu ihrem Rucksack, um ihre Flasche zu holen. Die anderen folgen ihr. Sogar Jenna begibt sich mit finsterem Gesicht auf die Suche nach ihrer Trinkflasche.


Die Strasse, die Silvan entdeckt hat, führt durch den Wald. Nicht wirklich eine Strasse, denkt sich Leonie, Wald-mit-etwas-weniger-Bäumen-und-Gebüsch-als-sonst trifft das Ganze besser. 

Nur an wenigen Stellen tritt der Asphalt noch zutage, und man sieht ab und zu den untersten, verrosteten Teil einer Strassenlaterne. Das Gehen ist jedoch eindeutig einfacher als gestern.

Nach einer Weile erreichen sie eine Lichtung. Lichtsignale ragen in die Luft, die vor lauter Efeu fast wie Bäume aussehen – harmlos, doch Leonie läuft es bei ihrem Anblick kalt über den Rücken.

"Schaut dort", flüstert Silvan, und weist auf den gegenüber liegenden Waldrand. 

Leonies Blick folgt seiner Hand. Drei Rehe. Sie recken ihre Köpfe hoch und schauen in die Richtung der Ankömmlinge, vielleicht durch Silvans Stimme aufgeschreckt. Dann wenden sie sich ab und verschwinden in eleganten Sprüngen im Wald.

"Cool, Mittagessen!" sagt Rosie und reibt sich die Hände.

"Gute Idee, hol' uns eins!" antwortet Klaus.

Rosie schüttelt den Kopf. "Das ist dein Job. Ihr Männer seid die Jäger. Wir Frauen sind die Sammler. So, und jetzt jag mir was!"

Klaus grinst. "Vielleicht nächstes Mal, Weib. Heute habe ich eher Lust auf ein paar Beeren. Und Beeren suchen ist deine Arbeit. Heidelbeeren am liebsten."

"Heidelbeeren!", antwortet Rosie und schnaubt. "Die kannst du haben, wenn du mir Fleisch besorgst."

Leonie vermutet, dass ihre Witze ihnen helfen, mit der Situation umzugehen. Sie fragt sich, was ihr dabei helfen könnte.

Sie setzen sich wieder in Bewegung. Die Sonne steht nun schräg links von ihnen. Die Strasse war hier früher offenbar massiver, es wachsen weniger Bäume und Büsche. Ab und zu lassen sich am Strassenrand Ruinen erkennen, die meisten davon schon fast zur Unkenntlichkeit zerfallen, kaum eine noch mehr als ein Stockwerk hoch.


Leonies Schultern beginnen unter den Trägern ihres Rucksacks zu schmerzen, als sie schliesslich den Rand eines Plateaus erreichen. Von hier führt der Weg nach unten. Vor ihnen liegt die Stadt.

Oder was davon übrig ist.

Wortlos bleiben sie stehen.

Das Blätterdach des Waldes vor und unter ihnen wird hier und da von Gebäuden aufgerissen, deren oberste, halb zerfallene Stockwerke den Himmel suchen. Ein Fluss zieht sich durch die Ruinen. Zwei Brücken, die einst darüber geführt haben, sind eingefallen, ihre Rücken gebrochen, in der Mitte überflutet. Leonies Blick folgt dem schlängelnden Verlauf des Wassers nach links, und sie erblickt einen strahlend blauen See. Hinter der Stadt und dem See erheben sich Berge, bläulich und weiss im Dunst des Tages.

Noch vor zwei Tagen waren sie mit dem Zug hier angekommen. Damals eine grosse Stadt, pulsierend, voller Leute und voller Leben. Jetzt, zwei Tage oder Jahre später, nichts als Ruinen.

"Sieht jemand von euch Anzeichen von Menschen?" fragt Silvan. "Anzeichen von noch lebenden Menschen, meine ich. Rauch? Felder? Intakte Gebäude? ... irgendwas?"

Seine Worte fallen wie Blei in die Stille der verlassenen Stadt. Jedes davon treibt die Erkenntnis in Leonies Herz: Sie sind alleine. Alleine in einer Welt der Ruinen,der Geister und der Rätsel.    

Welt der RuinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt