Entführung, und was nun?

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Anna, dreht ihren Kopf. Als sie Leonie erblickt, weiten sich ihre Augen.

"Sei bloss still", sagt Leonie nochmals, leise. Sie nimmt ihren Speer in beide Hände und hält ihn vor das Gesicht der Frau. "Und jetzt steh ganz langsam auf."

Anna tut wie geheissen. Als sie steht, reicht sie Leonie bis zur Nase. Ihr Körper ist dünn, ihre Haut ist blass. Kein Wunder, denkt sich Leonie, wenn sie ihr Leben wie ein Wurm in einem Loch im Berg verbringt.

Ihre geröteten, verheulten Augen sind voller Angst auf Leonie gerichtet. "Wer bist du?" fragt sie.

"Das spielt jetzt keine Rolle." Leonie befürchtet, dass die anderen jederzeit zurückkommen können, um Anna zu holen. "Wir gehen jetzt ins Tal, da runter." Sie weist mit ihrem Speer vom Pfad weg, geradeaus den Hang runter. "Bewegtdich, marsch."

Anna sitzt da wie angewurzelt.

Nervös blickt Leonie Richtung Bunker, dann wieder zurück zu Anna. "Los! Beweg dich! Ich habe schon Grösseres getötet als dich." Sie ist sich nicht sicher, ob das stimmt. Aber ein Reh ist sicher nicht viel leichter als diese dünne Gestalt vor ihr.

Anna zögert immer noch.

"Los!" zischt Leonie, die im Moment keinerlei Geduld verspürt. Sie hält die Speerspitze wenige Zentimeter vor Annas Nase.

Unsicher steht Anna auf und beginnt, den Abhang hinunter zu steigen. Sie hält sich dabei an allen Ästen und Stämmen fest, welche sie erreichen kann, sichtlich unsicher. Leonie vermutet, dass Anna es nicht gewohnt ist, sich im freien Gelände zu bewegen.

"Beweg dich!" Leonie drückt rückt die Speerspitze gegen Annas Schulter.

Anna weicht aus und blickt kurz zurück, mit Tränen in ihren Augen.

"Jetzt beginn bloss nicht zu plärren! Beweg dich! Schnell!"

Als sie etwas später den Talboden erreicht haben, treibt Leonie Anna nach links. Sie will um das Dorf einen grossen Bogen machen. Sie marschieren weiter, in Stille.

Und was mache ich jetzt mit der, fragt sie sich, den Blick auf den Rücken der Frau gerichtet. Die Entführung war eine spontane Aktion, geboren aus Leonies Wut beim Gedanken an ihre eingesperrten Kameraden. Na toll. Jetzt brauche ich nur noch einen Plan.

Sie beschliesst, Anna zunächst mal zu ihrem Nachtlager zu führen. Alles andere wird sich dann schon irgendwie weisen.

Leonies Lager liegt etwa eine Viertelstunde vom Dorf entfernt, in der Ruine nahe am Fluss. Dort angekommen, führt sie ihre Gefangene in einen Raum im Erdgeschoss, wo sie ihre Sachen aufbewahrt.

"Setz dich dort drüben hin." Leonie weist auf einige bröcklige Betonblöcke. Sie bleibt stehen und schaut sich Anna an, welche sich sichtlich erschöpft niederlässt. Offensichtlich macht sie selten längere Wanderungen.

Leonie fragt sich, ob sie mit dieser Anna hier bleiben soll, so nahe am Dorf, oder ob es besser wäre, einen Unterschlupf weiter weg zu suchen. Aber es ist schon bald Abend, und die Vorstellung, mit ihrer Geisel im Dunkeln da draussen nach einer anderen Bleibe Ausschau zu halten, ist nicht berauschend.

"Du bist Anna", stellt sie fest. Bei der Erwähnung ihres Namens erschrickt die Frau, dann nickt sie. Sie blickt Leonie an, die Augen angstvollaufgerissen.

Eine Narbe im Gesicht hat auch Vorteile, geht es Leonie durch den Kopf. Sie muss für Anna aussehen wie ein Pirat, die Narbe perfekt ergänzt durch ihre schmuddeligen Klamotten, ihr ungewaschenes Gesicht und den wilden Blick, den sie aufgesetzt hat.

Wie auch immer. Sie ist entschlossen, mehr über diese Welt zu erfahren.

Welt der RuinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt