Ein Hase und gerüstetes Gemüse

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Seit Rosie von ihrer Schwangerschaft erzählt hat, sind fünf Tage vergangen. Leonie hat die meiste Zeit davon ausserhalb des Hauses verbracht, auf der Jagd, mit einem neuen Bogen, den sie von Klaus erhalten hat.

Die Jagd gab ihr Gelegenheit zum Nachdenken. Sie durchstreifte die Wälder, sie lag auf der Lauer, sie suchte nach Beute, und die ganze Zeit drehten sich Gedanken in ihrem Kopf.

Der Wald, das Ufer und der See waren gute Orte um diese Gedanken zu wälzen.

Sie dachte über die Weigerung von Rosie und Klaus nach, sie ins Tal zu begleiten. Sie dachte an Anna, die – ihrem Zuhause entrissen – jetzt unter Fremden lebte. Sie dachte über ihre eigenen Wünsche und Ziele nach. Sie dachte an mögliche Pläne.

Einer Diskussion mit den anderen ging sie aus dem Weg. Sie wollte nicht mit ihnen über ihre Rückkehr ins Tal sprechen.

Was Rosie und Klaus betrifft, respektiert sie ihre Entscheidung, ihre zukünftige Familie an die erste Stelle zu setzen. Und Anna macht zwar langsame Fortschritte, aber sie ist immer noch schwach, weshalb Leonie bis jetzt darauf verzichtet hat, sie mit ihren Plänen zu belästigen.

Aber sie hat sich entschieden. Sie wird zurück gehen – ins Tal zu Silvan und Jenna. Bewaffnet, entschlossen und bereit. Und sie wird tun, was immer nötig ist.


Zurück von der Jagd nähert Leonie sich dem Haus. In einer Hand hält einen erlegten Hasen an den Hinterläufen. Der Nachmittag geht zur Neige und ihr Magen ist leer.

Das Gebäude sieht friedlich aus. Wie mit einem Pinselstrich gemalt, steigt etwas Rauch aus dem Kamin hoch. Sie betritt den sorgfältig gepflegten Garten. Um die Hausecke erreichen sie Stimmen. Sie erkennt Rosies fröhliches Lachen, und dann das Kichern einer Frau. Das muss Anna sein. Sie sieht die beiden nicht. Wahrscheinlich sitzen sie am Tisch auf der Seeseite des Hauses.

Anna war die letzten Tage meist im Bett, aber jetzt ist sie offenbar aufgestanden. Und redete nicht viel, aber jetzt scheint sie gesprächig. Neugierig nähert sich Leonie der Hausecke. Sie möchte wissen, was die beiden besprechen.

„... natürlich wirst du eine tolle Mutter sein." Das ist Annas Stimme. „Du bist so...", sie zögert. „Du bist so fürsorglich."

Rosie lacht wieder. „Ich weiss nicht ... aber es stimmt, ich freue mich drauf. Auf das Baby."

„Ich liebe Kinder", sagt Anna. „Ich liebe es, sie zu beobachten. Wie sie miteinander spielen. Sie sind so ... unbekümmert, völlig verloren in dem, was sie tun. Weisst du, es leben ein paar Kinder im Dorf, beim Bunker. Ich sehe sie manchmal."

„Gibt es auch Kinder im Bunker?" Rosies Stimme ist neugierig.

„Nein, keine, und das ist schade. Aber jetzt ist Katrin schwanger. Sie ist meine Cousine, weisst du. Und ich glaube, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch Emma ein Kind haben wird. Sie ist mit Frank zusammen... irgendwie."

Leonie erinnert sich an Emma, das Mädchen mit dem kurzen, schwarzen Haar und der Pistole. Sie kennt aber weder Katrin noch Frank. Wie auch immer, denkt sie sich, Mutter Natur kriegt wieder einmal ihren Willen. Wie bei den Enten.

„Ich freue mich darauf, ihre Kinder zusammen spielen zu sehen", sagt Anna mit einem hörbaren Lächeln in ihren Worten, dann aber zögert sie. Als sie fortfährt, hat ihre Stimme jede Fröhlichkeit verloren. „Aber, wahrscheinlich werde ich das gar nicht. Ich meine, ich werde sie gar nicht sehen. Ich werde nicht... dort sein."

Leonie findet, sie hat genug gelauscht, und geht um die Hausecke.

„Hey", sagt sie und winkt mit dem Hasen. „Ich bringe Abendessen."

„Nee", antwortet Rosie, und ihr Gesicht ist viel ernster als ihr Ton noch vor einigen Augenblicken. „Ich kann das Vieh nicht so schnell häuten, vorbereiten und kochen. Diesen Hasen gibt's also erst morgen. Heute machen wir Gemüse." Sie zeigt auf drei Haufen von Kartoffeln, Zwiebeln und Karotten, welche vor ihnen auf dem Tisch liegen – geschält, geschnitten und bereit für den Topf.

Ihr Grinsen kehrt zurück, als sie Leonies Beute genauer anschaut. „Aber ich freue mich auf morgen."

Die zwei sitzen auf einer langen Bank an der Hauswand. Neben Anna hat es Platz und Leonie setzt sich.

„Wie geht's, Anna?", fragt sie.

„Besser." Anna lächelt. Als Beweis hebt sie ihren verletzten Arm über den Kopf.


Später trägt Rosie das Gemüse ins Haus rein, und Leonie bleibt draussen mit Anna auf der Bank sitzen. Ihren Rücken an die Wand hinter ihnen gelehnt, lassen sie sich von den Strahlen der tief stehenden Sonne wärmen.

„Weisst du, Anna", sagt Leonie, „Ich werde zurückkehren. Ins Tal."

Anna dreht ihren Kopf und blickt Leonie an.

„Was willst du dort tun?"

Leonie zuckt mit den Schultern. „Ich bin noch nicht sicher. Aber es muss aufhören."

„Was muss aufhören?" Anna spricht jedes Wort langsam und einzeln aus.

Wieder hebt Leonie ihre Schultern. „Das Chippen. Die Dinge, welche sie Silvan und Jenna antun, dem ganzen Dorf antun. Jan muss gestoppt werden."

Anna blickt wieder auf den See. Sie ist still.

Leonie möchte wissen, was sie jetzt denkt. Was sie von ihrem Plan hält. Aber trotzdem fühlt sie sich seltsam ruhig und gelassen – sie ist sich sicher, dass sie gehen wird, was auch immer Anna dazu sagt.

Mutter Ente paddelt über das Wasser nahe am Ufer, wie üblich mit ihren Nachwuchs im Schlepptau. Leonie hätte sie jagen können, sie mit einem gezielten Pfeil erledigen können. Aber sie hat beschlossen, dass diese Enten zu ihrer Familie gehören. Und Familie isst man nicht – zumindest dann nicht, solange man anderswo genügend Nahrung findet.

Ein sanfter Windstoss lässt die Blätter einer grossen Buche am Rand des Gartens rascheln. Die Luft trägt den Geruch des Sees heran.

„Ich werde dir helfen", sagt Anna in die Stille, ihre Augen immer noch auf den See gerichtet.

Leonie blickt sie an und sieht eine Träne über ihre Wange laufen. Sie greift nach Annas Hand und hält sie fest. Anna drückt Leonies Finger.


„Wie wollt ihr das denn machen?" fragt Klaus mit weit offenen Augen und ausgebreiteten Händen.

Sie sitzen beim Abendessen. Leonie hat gerade erzählt, dass sie zurück ins Tal gehen werden, um Silvan und Jenna zu befreien und Jan zu stoppen.

Klaus fixiert Anna. „Deine Leute ... die Leute aus dem Bunker, meine ich ... sie haben Waffen. Und sie haben funktionierende Technologie. Sie sind gefährlich."

Anna öffnet ihren Mund, dann blickt sie wortlos Leonie an.

„Wir müssen unsere Pläne noch fertig ausarbeiten", sagt diese. Na ja, die Pläne fertig ausarbeiten ist vielleicht etwas beschönigend, denkt sie. Pläne machen wäre vielleicht genauer. Aber sie werden sich schon was ausdenken. „Wir haben noch etwas Zeit. Wir werden nicht schon morgen aufbrechen."

Sie blickt Rosie an, die auf ihrer Unterlippe kaut und deren Blick auf den Teller vor ihr gerichtet ist.

Dann geht ihr Blick zu Klaus. „Wir brauchen Waffen", sagt sie.

Er schluckt, dann nickt er. Langsam wandern seine Mundwinkel nach oben.

Welt der RuinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt