Sauerampfer und trockenes Laub

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Leonie liegt im nassen Gras, auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht. Vor ihrer Nase steht eine krautige Pflanze. Sauerampfer?

Sie realisiert, dass etwas nicht stimmt. Zum einen liegt sie normalerweise nicht mit dem Bauch im nassen Gras, ein Zustand, denn sie normalerweise vermeidet. Zum anderen hört sie nichts. Nein, nicht nichts. Da ist ein Pfeifen. Aber sonst nichts. Kein Regen. Nur das Pfeifen.

War da nicht vorhin ein Knall? Eine Explosion?

Sie versucht sich aufzusetzen und berührt dabei etwas Weiches. Silvan. Er liegt neben ihr, fast begraben unter seinem Rucksackgebirge. Er bewegt sich. Ein gutes Zeichen!

Sie erhebt sich auf die Knie und blinzelt in das helle Licht. Ihr Blick geht nach oben zum blauen Himmel.

Blau?

Fast blau, ein paar kleine, weisse Wolken dekorieren ihn freundlich. Sie fühlt die Wärme der Sonne auf dem Gesicht.

Ihre Knie ruhen immer noch im schlammigen Pfad, dem gleichen Pfad, den sie vor einigen Sekunden schon gehasst hat und der sich durch die nasse Wiese schlängelt. Aber die Wiese bildet jetzt eine Lichtung, umgeben von Büschen und Bäumen – grünen Büschen und hohen Bäumen, die vor ein paar Sekunden definitiv noch nicht da waren.

Ein gedämpftes Geräusch vermischt sich mit dem Pfeifen in Leonies Ohren. Sie dreht ihren Kopf.

Jenna versucht aufzustehen. Sie macht dabei ein Gesicht wie ein Schaf beim Metzger, Augen und Mund weit offen, noch bleicher als sonst. Aber sogar jetzt sieht sie irgendwie süss aus.

Neben ihr steht Rosie wie angewurzelt. Die Farben ihrer Jacke leuchten im Licht der Sonne.

Klaus ist auf allen vieren und bewegt seine Hände durch das Gras. Offenbar sucht er nach etwas.

"Scheisse", kommentiert Silvan, mit zielsicherer Wortwahl. Er hat sich zwischenzeitlich auch hochgerappelt. "Was soll das?"

Leonie blickt ihn an und schüttelt ratlos, nach Worten suchend, den Kopf.

"Mom?" Klaus hat sein Mobiltelefon im Gras gefunden. "Hallo?" Er blickt verwundert auf das Gerät. "Ich habe kein Netz!"

Also ob das jetzt das grösste aller Probleme ist, denkt sich Leonie.

"Schaut mal da!" Rosie weist auf den Wald links vom Pfad.

Die Bäume dort sind riesig. Halb versteckt zwischen ihnen erkennt Leonie eine rechteckige Struktur. Graue Wände, überwuchert von Kletterpflanzen, im Schatten des Blätterdachs. Ein Eingang im Erdgeschoss, dunkle Fenster im zweiten Stock.

Rosie geht ein paar Schritte darauf zu.

Leonie folgt ihr neugierig. Als sie den Rand der regennassen Wiese erreicht, hört sie ein Rascheln an ihren Füssen. Gefallenes Laub bedeckt den Boden und klebt sich freudig an ihre nassen Schuhe. Sie kauert nieder und berührt die Blätter. Sie sind ganz trocken und brüchig.

"Ich hab auch keinen Empfang", sagt Silvan hinter ihr.

Sie dreht sich um und sieht, wie er an einem Telefon rumfingert.

"Hat jemand von euch eine Ahnung, was hier los ist?", fragt er.

„Sie sind trocken", sagt Leonie. Sie hält eine Handvoll trocknes Laub hoch.

Alle blicken Leonie an, offenbar ohne eine Ahnung, wovon sie spricht. Sie kommt sich plötzlich töricht vor und lässt die Blätter zu Boden fallen.

"Wir sind nicht mehr da, wo wir gerade waren", sagt Jenna. "Wir sind woanders."

Danke für die Einsicht, sagt sich Leonie, schweigt aber.

Silvan zieht seine Kapuze vom Kopf und befreit sein strubbeliges, braunes Haar. Seine nassen Kleider dampfen in der Kraft der Sonnenstrahlen. Leonie wird es warm.

„Habt ihr eine Ahnung, was hier los ist?", fragt sie.

Silvan zuckt mit den Schultern.

"Ich glaube, das ist dasselbe Gebäude, wie jenes, das wir vorhin auch schon gesehen haben", stellt Klaus fest und blickt Rosie nach. "Seht ihr die Toröffnung, wo das Tor vorhin noch war? Und die zwei Fenster?"

Rosie hat das Gebäude zwischenzeitlich erreicht. Klaus hat Recht. Das grosse Tor, das vor wenigen Minuten noch verschlossen war, ist jetzt eine schwarze Öffnung, der gigantische Mund eines bröckelnden Monsters aus Beton. Im dämmrigen Innern erkennt Leonie Geröll und Trümmer, überwachsen von Grünzeugs.

Dort, wo gerade noch die Fenster waren, blickt sie das Gebäude jetzt aus dunkeln, leeren Augenhöhlen finster an.

"Es stimmt nicht, was du gesagt hast, Jenna", fährt Klaus fort, in einem etwas lehrerhaftem Ton. Leonie gibt ihm bei einem Widerspruch zu Aussagen von Jenna gerne Recht, hat aber keine Ahnung, wovon er jetzt redet.

"Du hast vorhin gesagt", fährt Klaus erklärend fort, "dass wir nicht mehr da sind, wo wir gerade waren. Ich denke, wird sind immer noch da, wo wir gerade waren. Das Gebäude ist ja immer noch hier. Aber irgend etwas ist mit ihm ... und mit der Welt um uns herum ... passiert."

Jetzt zieht auch Leonie ihr Mobiltelefon aus der Tasche. Jenna und Rosie folgen ihrem Beispiel.

'No Carrier' seht links oben in der Ecke. Normalerweise hasst sie diese Meldung, mit Nachdruck. Aber sie war niemals unheimlich – bis heute. Dennoch ist sie versucht, ihre Nachrichten zu checken, sieht aber ein, dass das keinen Sinn macht. "Nichts", sagt sie.

"Auch hier nichts", meint Rosie und schaut sich verunsichert um.

Jenna schüttelt verärgert den Kopf.

"Auch GPS geht nicht", fügt Klaus hinzu, "das müsste eigentlich immer gehen. Das ist seltsam."

Die fünf blicken einander an. Jeder umklammert sein nutzloses Smartphone, jeder ratlos.

Leonies Blick bewegt sich zu den Bäumen. Das Halbdunkel zwischen den Stämmen sieht düster aus, als ob dort etwas Dunkles lauert und sie aus hungrigen Augen beobachtet. Ein ungutes Gefühl macht sich in ihr breit. Sie fühlt sich wie ein Tier in einer Falle, ohne jegliche Ahnung, was hier vor sich geht.

Welt der RuinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt