Bogenschiessen, und eine sich abzeichnende Routine

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Zunächst folgt Leonie dem Seeufer nach Osten. Wie Jenna und Silvan geschildert haben, kommt sie bald darauf in eine Stadt, die sich vom See den Hang hinauf erstreckt. Auch hier sind die meisten Häuser schon völlig zerfallen.

Auf einem einigermassen ebenen, baumfreien Platz zieht sie ihren Rucksack ab. Dann nimmt sie einen  Pfeil aus dem Köcher und ergreift ihren Bogen. Etwa zehn Meter von ihr entfernt steht ein Baum.

Sie stellt sich auf, den rechten Fuss etwas vorne platziert, den rechten Arm gestreckt, den Bogen haltend, die linke Hand am Pfeil. Sie spannt den Bogen und fühlt dessen vibrierende Kraft, die nur darauf wartet, den Pfeil ins Ziel zu schleudern. Sie schliesst ihr rechtes Auge. Der Blick des Linken folgt dem Schaft des Pfeils und visualisiert dessen Flugbahn bis zum Baum, zu einem Punkt fünf Zentimeter unterhalb eines Astlochs. Langsam atmet sie aus und lässt ihre Gedanken verebben. Alles um sie herum ist still. Die Vögel halten in ihrem Gezwitscher inne.

Sie lässt den Pfeil los. Mit einem zischenden Geräusch verlässt er den Bogen.

Wie in Zeitlupe sieht sie den Pfeil etwa zwei Meter am Ziel vorbeifliegen. Er bohrt sich hinter dem Baum in eine Böschung.

Mist, sagt sie sich. Sie geht zur Böschung, um den Pfeil zu suchen. Das Gezwitscher der Vögel klingt nun spöttisch.

Sie wiederholt das Experiment, immer wieder, bis ihr Arm müde wird. Wäre die Böschung hinter dem Baum ein Elefant, wäre er jetzt tot. Nur einmal trifft sie den Baum, etwa einen halben Meter unter dem Ziel.

Frustriert blickt sie den Baum an. Bogenschiessen sieht so einfach aus, wenn Katniss es macht. Einen Moment lang denkt sie ans Aufgeben, dann schüttelt sie aber den Kopf, holt sich den Pfeil und stellt sich wieder auf.

Sie übt, bis sie an den Fingern ihrer linken Hand Blasen hat und die Rechte von den an ihr vorbei ziehenden Pfeilen blutig gekratzt ist.

Die letzten drei Schüsse gehen alle in den Baum, einer davon nur zehn Zentimeter vom Ziel.

Nicht gut genug, denkt sie sich, aber sie kann nicht mehr. Sie setzt sich in die Sonne und isst einen Apfel.


Später streift sie durch die Stadt, durchstöbert die Ruinen und hält nach Tieren Ausschau, findet aber nur die Schatten von Geistern. Noch später, am Seeufer, sieht sie Fische im Wasser. Es gelingt ihr, zwei davon mit ihrem Speer zu fangen.


Als die Sonne sich langsam dem Horizont nähert, fragt sie sich einen Moment lang, ob sie überhaupt in ihr Haus zurückkehren soll. Sie könnte die Nacht hier in der Stadt verbringen. Überhaupt könnte sie sich ein eigenes Zuhause suchen. Die anderen wären zufrieden, auch ohne sie. Und auch für sie selbst wäre das irgendwie einfacher. Sie ist das fünfte Rad am Wagen – ein Spruch, den ihre Mutter manchmal verwendet hat, und den Leonie erst jetzt richtig versteht.

Aber dann schüttelt sie den Kopf. Nein, sie gehören zusammen, sie und die anderen vier, die letzten Menschen in dieser verlassenen Welt. Nicht zurückzukehren wäre vielleicht einfacher, zumindest im Moment, aber es wäre wie ein Aufgeben. Nur zusammen sind sie stark. Und Leonie hat beschlossen, stark zu sein.


Als sie das Wohnzimmer betritt, sind die anderen dort alle schon versammelt.

"Leonie ..." beginnt Silvan, und stockt. Sein Mund bleibt offen, als er Leonie mit ihren kurz geschnittenen Haaren erblickt.

Rosie findet als erste wieder Worte. "Wir hatten Angst um dich." Sie steht auf und umarmt Leonie. Dann blickt sie sie an. "Was hast du mit deinen Haaren gemacht?"

Leonie grinst. "Ich war beim Friseur!" Sie stellt sich stolz und aufrecht hin, mit der Würde einer Kriegerin, ihr Blick nacheinander ihre Kameraden fixierend.

So glaubt sie zumindest.

"Geht es dir gut?" fragt Klaus. "Dein Blick wirkt fiebrig."

"Es geht mir gut." Sie seufzt etwas resigniert. Das mit der Würde der Kriegerin war wohl nichts.

Sie zieht ihren Rucksack aus und hält Rosie die beiden Fische hin.

"Super! Danke. Klaus arbeitet an einem Verfahren, um Fisch zu räuchern. Die können wir brauchen."

"Und jetzt erzähl uns, was du den ganzen Tag getrieben hast." Silvan weist auf die Bank neben sich, und Leonie nimmt Platz. Sie merkt, wie erschöpft sie ist. Sie beginnt, von ihrem Tag zu erzählen, wobei sie ihre nicht sehr erfolgreichen Bogenversuche nur verkürzt darstellt.


Später, in ihrem 'Bett', gesättigt und warm, lächelt sie in die Dunkelheit. Ja, sie wird stark sein. Aber das heisst nicht, dass sie ihren Weg alleine gehen muss. Sie und ihre Freunde gehören zusammen.


Die Tage wiederholen sich. Leonie ist meist allein unterwegs. Sie übt mit dem Bogen, und langsam wird ihre Treffsicherheit besser. Sie durchstreift die Hänge um die Stadt am Nordufer des Sees. Sie sammelt die letzten brauchbaren Überreste einer gescheiterten Zivilisation. Sie jagt und sucht nach Essbarem. Sie sieht nicht nur Hasen, Fische und Vögel, sondern auch Wölfe, um die sie einen Bogen macht. Und einmal erblickt sie einen Bären, aus Distanz. Beim Anblick des Tiers berühren ihre Finger unwillkürlich die Narbe an ihrer Wange, und sie hat das Gefühl, dass dieses Kapitel noch nicht abgeschlossen ist.

Die Tage werden kühler. Manchmal liegt am Morgen Frost. Die Suche nach Essen wird schwieriger. Meist haben sie genug, aber die Angst vor dem Hunger ist ihr ständiger Begleiter.

Dennoch wird Leonie nach und nach stärker. Und dieses eigenartige Leben, am Rand des Überlebens, im Kampf um den nächsten Tag, die nächste Woche, Auge in Auge mit der Wildnis und den unsichtbaren, rätselhaften Geistern der Vergangenheit wird langsam zur Routine.

Welt der RuinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt